17. Kapitel

Gottes Sohn sprach zur Braut (Birgitta) und sagte: „Glaubst du standhaft, dass das, was der Priester in Händen hält, Gottes Leib ist?“ Sie erwiderte: „So wie ich standhaft glaube, dass das Wort, das zu Maria gesandt wurde, in ihrem Schoße Fleisch und Blut geworden ist, so glaube ich auch, dass das, was ich jetzt in den Händen des Priesters sehe, wahrer Gott und Mensch ist.
Der Herr antwortete ihr: „Ich, der mit dir spricht, ist derselbe, der ewig in der Gottheit bleibt, und der im Mutterleib der Jungfrau Menschengestalt annahm, ohne die Göttlichkeit zu verlieren.

Meine Göttlichkeit kann mit Recht eine Tugend genannt werden, denn darin gibt es zwei Dinge, - nämlich die allermächtigste Macht, aus der jede Macht stammt, und zweitens die allerweiseste Weisheit, von der und in der alle Weisheit ist. In dieser Gottheit sind gewiß all die Dinge, die es gibt, vernünftig und weise geordnet enthalten. Denn es gibt im Himmel keinen einzigen Titel, der nicht in ihr und von ihr eingerichtet und vorausgesehen ist. Und es gibt auf Erden nicht ein einziges Staubkorn, nicht einen einzigen Funken in der Hölle, der außerhalb seiner Verordnung steht, und der sich vor seinem Vorherwissen verbergen könnte.
Vielleicht möchtest du wissen, warum ich sagte: „Ein einziger Titel im Himmel“? Ja, wie der Titel die Vervollkommnung des geschriebenen Wortes ist, so ist Gottes Wort die Vollendung aller Dinge und zur Ehre aller Dinge eingerichtet. Aber warum sagte ich „Ein einziges Staubkorn auf Erden“, wenn nicht deshalb, weil alles Irdische vergänglich ist? Und doch besteht es nicht ohne Gottes Verordnung und Vorausschau, wie klein es auch sein mag.

Und warum sagte ich „Ein einziger Funken in der Hölle“, wenn nicht darum, dass es in der Hölle nichts anderes gibt, als Neid? Denn wie der Funke aus dem Feuer hervorgeht, so geht alle Bosheit und aller Neid von den unreinen Geistern aus, so dass sie und ihre Anhänger immer Missgunst hegen, aber nie irgendwelche Liebe. Weil die vollkommene Weisheit und Macht bei Gott ist, so ist alles so eingerichtet, dass es nichts gegen Gottes Macht auszurichten vermag, und von nichts kann man behaupten, es sei unklug gemacht, sondern alles ist vernünftig geschaffen, so dass es für eine jede Sache passen würde.

Die Gottheit kann also in Wahrheit Tugend genannt werden. Seine größte Tugend zeigte Gott bei der Erschaffung der Engel. Er schuf sie nämlich sich selbst zur Ehre und ihnen selbst zur Freude, damit sie Liebe und Gehorsam haben sollten – Liebe, womit sie nichts anderes als Gott lieben sollten, Gehorsam, womit sie Gott in allem gehorchen sollten.

Manche Engel gingen irre und lehnten sich sündhaft gegen diese beiden Dinge auf. Sie richteten ihren Willen nämlich gerade gegen Gott entgegen, so dass die Tugend ihnen verhasst wurde, und das, was gegen Gott gerichtet war, ihnen lieb ward. Auf Grund dieser wirren Willensbewegung haben sie ihren Fall verdient, nicht deshalb, weil Gott es für sie bestimmt hatte, sondern weil sie selbst sich diesen Fall auf Grund von Zügellosigkeit in ihrer Weisheit bereitet hatten.

Als Gott also sah, welche Verminderung durch deren Sünde in seiner himmlischen Heerschar veranlasst worden war, ließ Gott noch einmal seine Tugend erkennen, indem er den Menschen mit Leib und Seele schuf. Seinem Körper gab er zwei gute Dinge, nämlich die Freiheit, das Gute zu tun und dem Bösen auszuweichen, denn nachdem mehrere Engel nicht hätten geschaffen werden sollen, war es gerecht, dass der Mensch nun auch die Freiheit haben sollte, zur Würde der Engel aufzusteigen, wenn er wollte.

Auch der Seele des Menschen gab er zwei gute Dinge, nämlich den Verstand, das Hinderliche vom Hinderlichen und das bessere vom Besten zu unterscheiden, und zweitens Stärke, im Guten festzustehen. Als der Teufel diese Liebe Gottes zum Menschen sah, dachte er neidisch bei sich selbst: „Sieh, nun hat Gott etwas Neues gemacht, das zu unserem Platz aufsteigen und sich das erkämpfen kann, was wir verschmäht und verlassen haben. Wenn wir es fertigbringen, ihn zu Fall zu bringen und irre zu leiten, wird der Mensch im Kampf ermüden und kann dann nicht zu einer so hohen Würde aufsteigen.

Dann dachten die Teufel einen raffinierten Plan aus, betrogen den ersten Menschen durch ihre Bosheit und gewannen durch gerechte Zulassung Macht über ihn. Aber wie und wann wurde der Mensch besiegt? Sicher, als er die Tugend aufgab und das Verbotene tat, und als ihm das Versprechen der Schlange mehr gefiel, als der Gehorsam gegenüber mir. Wegen dieses Ungehorsams durfte er auch nicht im Himmel sein, nachdem er Gott verachtet hatte, aber auch nicht in der Hölle, denn mit Hilfe des Verstandes wurde seine Seele genau dessen inne, was er getan hatte, und er wurde von Reue über die begangene Sünde ergriffen.

Daher bestimmte der tugendreiche Gott, der das Elend des Menschen sah, das wie ein Gefängnisplatz für ihn war, dass der Mensch seine Schwachheit ablegen und seinen Ungehorsam wieder gutmachen sollte, bis er verdienen würde, zu der Würde aufzusteigen, die er verloren hatte. Das überlegte der Teufel, und jetzt wollte er die Seele des Menschen durch Ungehorsam töten. Er senkte seinen Schmutz in die Seele ein und verdunkelte den Verstand des Menschen so, dass er weder Liebe für Gott noch Furcht vor ihm empfand. Gottes Gerechtigkeit geriet in Vergessenheit, sein Gericht wurde verachtet und bewirkte nichts; Gottes Güte und sein Gaben wurden vergessen.

Daher wurde Gott nicht mehr geliebt, und so standen die Menschen mit ihrem verdunkelten Gewissen im Elend und fielen noch schlimmer als vorher. Aber obwohl der Mensch sich in dieser Lage befand, war doch Gottes Tugend nicht von ihm gewichen, sondern zeigte seine Barmherzigkeit und seine Gerechtigkeit: Seine Barmherzigkeit, als Gott den Menschen – nämlich Adam und Eva und anderen guten Menschen – zeigte, dass sie nach einer bestimmten Zeit Hilfe erhalten sollten, wodurch ihre innere Liebe zu Gott erweckt wurde. Seine Gerechtigkeit zeigte er durch die Sintflut zur Zeit Noahs, wodurch Gottesfurcht in die Herzen eingegossen wurde.

Aber der Teufel hörte dennoch nicht auf, den Menschen zu beunruhigen, sondern er griff ihn mit zwei anderen Sünden an. Erstens gab er ihm einen Irrglauben, dann Verzagtheit ein, damit die Menschen Gottes Wort nicht glauben, sondern meinen sollten, dass seine Wundertaten allein auf dem Schicksal beruhen – Mutlosigkeit, dass sie nicht auf die Erlösung und darauf hoffen sollten, die verlorene Ehre wiederzugewinnen.
Aber der tugendreiche Gott unterließ es nicht, zwei Heilmittel gegen diese beiden zu schenken. Denn gegen die Verzagtheit schenkte er die Hoffnung, indem er Abraham bei Namen nannte und versprach, dass er durch seine Saat ernährt werden sollte, und dass er ihn und seine Glaubensgenossen in das verlorene Erbteil zurückführen würde.

Dazu berief er Propheten, denen er die Art und Weise und den Platz für ihre Befreiung und die Zeit für sein Leiden offenbarte. Gegen die andere Sünde, nämlich den Irrglauben, redete Gott zu Mose, zeigte ihm das Gesetz und seinen Willen und vervollkommnete seine Worte mit Zeichen und Taten.
Aber die Bosheit des Teufels war doch noch nicht zu Ende, sondern er verleitete den Menschen zu noch schlimmeren Dingen. Er gab ihm zwei andere Dinge ins Herz ein: Erstens, zu denken, dass das Gesetz höchst unerträglich sei, und dass es Unruhe verursacht, wenn man es befolgt. Zweitens, dass es gleichsam unglaublich scheinen würde, ja äußerst schwer zu glauben, dass Gott aus Liebe leiden und sterben wollte.

Gegen diese beiden Einflüsterungen schenkte Gott wiederum zwei Heilmittel. Erstens sandte er, damit der Mensch durch die Härte des Gesetzes nicht verunsichert werden solle, seinen Sohn in den Schoß der Jungfrau, der Menschengestalt annahm, das vollendete, was zum Gesetz gehörte, und dann das eigentliche Gesetz leichter machte.
Gegen die andere Sünde zeigte Gott die allergrößte Tugend, denn der Schöpfer starb für die Geschaffenen, und der Gerechte für die Ungerechten, und der Unschuldige wurde bis zum letzten Augenblick gepeinigt, wie es von den Propheten vorausgesagt war.

Aber die Schlechtigkeit des Teufels hörte noch immer nicht auf: Er erhob sich noch einmal gegen den Menschen und gab ihm zwei andere Dinge ein. Erstens gab er seinem Herzen ein, dass meine Worte zum Gegenstand von Spott und Hohn gemacht werden sollten, zweitens, dass meine Taten in Vergessenheit geraten sollten.
Gegen diese beiden nahm sich Gottes Tugend vor, noch zwei Heilmittel zu zeigen. Erstens, dass meine Worte wieder zu Ehren gebracht werden und meine Taten zum Vorbild genommen werden sollen. Daher leitete dich Gott in seinem Geist und verkündigte durch dich seinen Willen auf Erden für seine Freunde, besonders aus zwei Gründen. Erstens, damit Gottes Erbarmen gezeigt werden sollte, wodurch die Menschen lernen sollten, sich an Gottes Liebe und sein Leiden zu erinnern, zweitens, dass man auf Gottes Gerechtigkeit achten und die Strenge meines Gerichtes fürchten soll.

Sage deshalb zu diesem Mann, dass er – nachdem nun meine Barmherzigkeit gekommen ist, sie ins Licht stellen soll, so dass die Menschen lernen, Barmherzigkeit zu suchen und sich vor dem Gericht in Acht zu nehmen. Sag ihm weiter, dass, obwohl meine Worte aufgeschrieben sind, sie doch erst verkündet und dann in die Tat umgesetzt werden müssen.

Du wirst dies besser durch ein Gleichnis verstehen: Als Mose das Gesetz empfangen sollte, war der Stab bereit und die Tafeln in Ordnung gebracht, aber er tat mit diesem Stab keine Wunderwerke, ehe es notwendig war und die Zeit es erforderte. Als die rechte Zeit gekommen war, da zeigten sich Wunderwerke, und meine Worte offenbarten sich durch Taten.

So war es auch, als das neue Gesetz kam: Erst wuchs mein Leib und schritt bis zum reifen Alter vor; dann wurden die Worte gehört. Aber obwohl die Worte gehört wurden, hatten sie doch keine Kraft und Stärke in sich, ehe die Taten kamen, und sie waren nicht vollkommen, ehe ich mit meinem Leiden alles vollbrachte, was die Propheten über mich offenbart hatten. So ist es auch jetzt. Denn wenn auch die Worte meiner Liebe aufgeschrieben sind und auf der Welt ausgeführt werden sollten, haben sie doch keine Macht, ehe sie ins vollständige Licht kommen.“