26. Kapitel

Maria sagte: „Befestige den Brustschmuck des Leidens meines Sohnes auf dir, so wie der hl. Laurentius es tat. Er dachte nämlich so in seinem Sinn: „Mein Gott ist mein Herr, und ich bin sein Diener. Der Herr Jesus Christus wurde seiner Kleider beraubt und verspottet – wie würde es dann passen, dass ich, sein Diener, auf üppige Art gekleidet wäre? Er wurde gegeißelt und ans Holz genagelt – es gehört sich also nicht, dass ich, der sein Diener ist (wenn ich nun wirklich sein Diener bin), ohne Plage und Trübsal bin.

Als er (Laurentius) über der Glut ausgestreckt wurde, als das schmelzende Fett ins Feuer tropfte und das Feuer alle seine Glieder anzündete, erhob er die Augen zum Himmel und sagte: „Gesegnet seist du, mein Gott und mein Schöpfer, Jesus Christus! Ich spüre, dass ich in meinen Lebenstagen nicht gut gelebt habe, und ich sehe ein, dass ich wenig für deine Ehre getan habe. Aber da deine Barmherzigkeit so groß ist, bitte ich dich, dass du nach deiner Barmherzigkeit an mir handelst.“

Und mit diesen Worten wurde die Seele vom Körper getrennt.
Sieh, meine Tochter: Er, der meinen Sohn so innig liebte und zu seiner Ehre so viel erduldete, hielt sich dennoch für unwürdig, das Himmelreich zu gewinnen! Wie könnten dann die, die nach seinem Willen leben, dessen würdig sein? Betrachte daher ständig das Leiden meines Sohnes und seiner Heiligen! Denn sie litten dies alles nicht ohne Grund, sondern um anderen ein Beispiel zu geben, wie man leben soll, und um zu zeigen, welch schwere Strafen mein Sohn den Sündern auferlegt, er, der nicht will, dass keine einzige Sünde ohne Buße bleibt.

Dann kam der Sohn, redete und sprach zur Braut: „Ich sagte dir vorher, was es in unserem Häusern geben soll. Unter anderen Dingen muß es da Kleider von dreifacher Art geben. Erstens Leinenkleider, die von der Erden stammen und dort gewachsen sind. Ferner Felle, die von den Tieren stammen. Drittens Seide, die von den Seidenraupen kommt.
Das Leinen-Kleid hat zwei gute Eigenschaften. Erstens ist es weich und behaglich für den nackten Körper. Zweitens verliert es nicht seine Farbe, sondern je öfter es gewaschen wird, desto sauberer wird es. Die andere Kleidersorte, nämlich Fell, hat auch zwei Eigenschaften. Erstens bedeckt es die Bloße, zweitens wärmt es gegen die Kälte. Die dritte Kleidersorte, nämlich Seide, hat auch zwei Eigenschaften. Erstens sieht sie sehr hübsch und fein aus, zweitens ist sie sehr teuer zu kaufen.

Das Leinenkleid, das geeignet ist, ganz nah am Körper getragen zu werden, bezeichnet Frieden und Eintracht. Das soll die fromme Seele mit ihrem Gott haben: sie soll Frieden mit ihrem Gott haben, soll nichts anderes wollen, als was Gott will, und ihn nicht durch ihre Sünden reizen, denn es herrscht kein Frieden zwischen Gott und Seele, wenn sie nicht vor der Sünde flieht und das böse Begehren nicht gezügelt wird.
Sie muß auch Frieden mit ihrem Nächsten haben, d.h. ihm nichts Böses zufügen, sondern ihm helfen, wenn sie kann, und ihm verzeihen, wenn er ihr Unrecht getan hat. Denn was beunruhigt und quält die Seele schlimmer, als immer Begierde nach Sünde zu haben und nie davon genug zu bekommen, immer danach zu begehren und niemals satt zu werden?

Und was sticht die Seele bitterer, als dem Höchsten zu zürnen und ihn um seine Güter zu beneiden? Daher soll die Seele mit Gott und dem Nächsten Frieden haben, denn nichts kann mehr beruhigen, als der Sünde aus dem Weg zu gehen und sich um weltliche Dinge nicht zu kümmern. Nichts ist auch angenehmer, als sich über das Gut des Nächsten zu freuen, und ihm dasselbe zu wünschen, wie sich selbst.
Dieses Leinenkleid sollte ganz nah am Körper getragen werden, denn dem Herzen, in dem Gott ruhen will, ist der Friede näher als andere Tugenden, und dort sollte er zuerst wohnen. Dieser Frieden kommt ebenso wie das Linnen aus der Erde und ist da gewachsen, denn der wahre Friede und die Geduld entsteht durch das Betrachten der eigenen Schwachheit.

Der Mensch, der von der Erde stammt, möge also seine eigene Schwachheit betrachten; er gerät gleich in Zorn, wenn er beleidigt wird, und ist gleich betrübt, wenn er irgendeinen Schaden leidet. Wenn er das bedenkt, wird er einem anderen nichts antun, was er selbst nicht dulden kann, und er wird bei sich selber denken: „So wie ich, ist auch mein Nächster schwach; so wie ich so etwas nicht dulden will, so kann er es auch nicht.“

Da verliert der Frieden seine Farbe nicht, d.h. seine Haltbarkeit, sondern wird umso wahrhaftiger, denn wenn der Mensch die Schwachheit des Nächsten in sich selbst betrachtet, macht ihn das bereit, zugefügtes Unrecht zu ertragen. Aber wenn der Friede irgendwie durch Ungeduld getrübt wird, so wird er bei Gott umso heller, je öfter und je schneller er durch Reue und Buße reingewaschen wird. Und der Mensch wird auch froher und behutsamer etwas zu ertragen, je öfter er sich reinwäscht, nachdem er verbittert war, denn er freut sich ja auf die Belohnung, die er für seine Friedfertigkeit zu erlangen hofft, und nimmt sich umso gewissenhafter in Acht, dass er nicht durch Ungeduld zu Fall kommt.

Das andere Kleidungsstück, nämlich das Fell, bezeichnet Werke der Barmherzigkeit. Fallkleider werden aus dem Fell von toten Tieren hergestellt. Wer sind diese Tiere anderes, wenn nicht meine Heiligen, die einfältig wie Tiere sind? Mit ihrem Fellkleid müssten die Seelen bedeckt werden, d.h. sie sollten ihren Werken der Barmherzigkeit nacheifern und sie tun.

Diese Felle tun zwei gute Dinge. Erstens bedecken sie die Blöße der sündigen Seele und machen sie rein, so dass sie mir nicht befleckt vor Augen treten kann. Zweitens schützt sie die Seele vor Kälte. Was ist die Kälte der Seele anderes, wenn nicht die Verhärtung der Seele gegen meine Liebe? Gegen diese Kälte taugen Werke der Barmherzigkeit, die die Seele bekleiden, so dass sie nicht vor Kälte vergeht. Durch sie besucht nämlich Gott die Seele, und sie kommt Gott beständig näher.

Das dritte Kleid, nämlich die Seide, die von Seidenraupen hergestellt wird und sehr teuer zu kaufen ist, bezeichnet die reine Enthaltsamkeit. Die ist nämlich in den Augen Gottes, der Engel und der Menschen schön. Sie ist auch teuer zu erkaufen, denn es scheint dem Menschen schwer, seinen Mund von vielem und unnütz gem Reden zu enthalten. Es erscheint ihm schwer, das Begehren seines Fleisches nach unmäßigem Überfluß und von Üppigkeit zu zügeln, und es erscheint ihm schwer, gegen seinen eigenen Willen anzugehen. Aber wenn das auch schwer ist, ist es doch überaus nützlich und schön.

Deshalb, meine Braut – mit dir meine ich alle Gläubigen – laß uns im anderen Hause Frieden mit Gott und dem Nächsten sammeln, Werke der Barmherzigkeit, die darin bestehen, mit den Elenden Mitleid zu haben und ihnen beizustehen, und Enthaltsamkeit von Begierden, was – obwohl sie wertvoller als andere Ding ist – auch schöner ist, ja so schön, dass keine andere Tugend ohne sie schön zu sein scheint. Diese Enthaltsamkeit soll man von den Raupen abgucken, d.h. durch das Bedenken seiner Sünden gegen mich, ihren Gott, gegen meine Demut und Enthaltsamkeit, ich, der ich um des Menschen willen bleich wie eine Raupe wurde.

Der Mensch sollte nämlich in seiner Seele bedenken, wie und wie oft er gegen mich gesündigt hat, und in welcher Weise er sich gebessert hat – und dabei soll er entdecken, dass er mit keiner Enthaltsamkeit und keine Mühe das ausreichend bessern kann, was er mir so oft angetan hat. Er sollte auch meine Pein und die meiner Heiligen bedenken, wozu wir dies alles ertragen haben, und er möge wahrhaftig verstehen, dass, wenn ich so schwere Dinge von mir und meinen Heiligen verlange, die mir gehorsam waren, eine umso schwerere Strafe von denen fordern werde, die mir nicht gehorchen.

Also soll die gute Seele sich willig Enthaltsamkeit auferlegen und bedenken, wie böse ihre Sünden sind, die an der Seele wie Würmer nagen, und wie sich von den elenden Raupen kostbare Seide entwickelt, nämlich reine Enthaltsamkeit in allen ihren Gliedern, worüber sich Gott und die ganze himmlische Heerschar freut. Wenn sie das sammelt, wird sie ewige Freude verdienen, und wenn ihr diese Enthaltsamkeit nicht beigestanden hätte, hätte sie ewigen Kummer erhalten.“