29. Kapitel

Johannes der Täufer sprach zu Christi Braut und sagte: „Der Herr Jesus hat dich aus dem Dunkel zum Licht berufen, aus Unreinheit zu vollkommener Reinheit, aus der Enge in die Weite. Wer kann da erklären, wie sehr du ihm dafür danken musst, oder wenn du dazu im Stande bist? Doch sollst du so viel tun, wie du vermagst.

Es gibt einen Vogel, der „Elster“ genannt wird. Er liebt seine Jungen, denn die Eier, aus denen sie hervorgehen, waren in seinem Mutterleib. Dieser Vogel macht sich ein Nest aus altem Zeug und verschlissenen Sachen aus drei Gründen: Erstens, um zu ruhen, zweitens, um einen Schutz vor Regen und schwerer Dürre zu haben, drittens, um dort seine Jungen aufzuziehen, die aus den Eiern schlüpfen, indem sich der Vogel in seiner Liebe auf die Eier setzt, um sie zu wärmen und die Jungen auszubrüten.

Wenn die Jungen ausgeschlüpft sind, lockt die Mutter sie auf drei Arten zum Fliegen. Erstens damit, dass sie ihnen das Futter zeigt, zweitens durch unausgesetztes Rufen, und drittens, indem sie ihnen ein Beispiel mit ihrem Fluge gibt. Da die Jungen die Mutter lieben und an ihr Futter gewöhnt sind, wagen sie sich so allmählich aus dem Nest und folgen der Mutter. Dann fliegen sie immer länger, je nach ihren Kräften, bis sie es durch Gewohnheit und Kunst voll beherrschen.
Dieser Vogel ist Gott, der ewig ist und sich niemals ändert. Aus dem Schoße seiner Gottheit gehen alle vernunftbegabten Seelen hervor. Für jede Seele wird ein Nest aus altem Zeug und verschlissenen Sachen bereitet, denn im Körper, der aus Erde ist und mit der Seele vereinigt wird, nährt Gott die Seele mit der Speise guter Wünsche, verteidigt sie gegen die Vögel schlechter Gedanken, und schenkt ihnen Sicherheit vor den Regenschauern böser Handlungen.

Jede Seele wird mit dem Körper aus dem Grund vereint, dass die Seele diesen Körper steuern soll und nicht etwa von ihm gelenkt wird, und dass sie den Leib zur Arbeit ermuntern und in vernünftiger Weise für ihn sorgen soll. Daher lehrt Gott die Seele wie eine Mutter, Fortschritte zum Besseren zu machen. Er lehrt sie, aus der Enge hinaus ins Weite zu drängen.
Zuerst tut er das durch Nahrung, indem er einer jeden Verstand und Einsicht nach Vermögen gibt und die Sinne lehrt, zu beurteilen, was man wählen soll, und was zu vermeiden ist. Wie die Vogelmutter die Jungen erst über den Rand des Nestes führt, so soll der Mensch zuerst lernen, an das Himmlische zu denken und daran zu denken, wie eng und elend das Nest des Körpers ist, und wie strahlend das Himmlische und wie lieblich das Ewige ist.

Gott lenkt die Seele ebenso durch seine Stimme, mit der er ruft: „Wer mir nachfolgt, wird das Leben haben; wer mich liebt, wird nicht sterben.“ Diese Stimme führt zum Himmel. Wer sie nicht hört, ist entweder taub oder auch undankbar gegen die Mutterliebe. Drittens leitet Gott die Seele durch seinen Flug, d.h. das Abbild seiner Menschlichkeit. Diese ehrenreiche Menschlichkeit hat gleichsam zwei Schwingen: Erstens, da alle Reinheit und nichts Beflecktes in Gott vorhanden war, zweitens, weil er alles gut gemacht hat, und mit diesen beiden Flügeln flog Gottes Menschlichkeit in der Welt. Dem soll die Seele folgen, so gut sie es vermag, und kann sie es nicht im Handeln, soll sie es zumindesten mit dem Willen tun.

Wenn das Junge fliegt, muß es sich jedoch vor drei Dingen hüten. Erstens vor den wilden Tieren. Es soll nicht bei ihnen auf dem Felde sitzen, denn das Junge ist nicht so stark wie sie. Zweitens soll es sich vor Raubvögeln in Acht nehmen, denn das Junge ist noch nicht so schnell im Fliegen, wie diese Vögel, und daher ist es sicherer für ihn, noch im Versteck zu bleiben. Drittens soll es sich hüten, nach der Lockspeise zu verlangen, die eine Schlinge birgt.

Die wilden Tiere, von denen ich sprach, sind die Vergnügungen und Begierden der Welt. Vor denen soll das Vogeljunge sich in Acht nehmen, denn sie scheinen herrlich zu schmecken, gut zu besitzen und schön zu betrachten sein, aber wenn man glaubt, sie zu behalten, verschwinden sie schnell, und wenn man glaubt, dass sie belustigen, verletzen sie unbarmherzig.

Zweitens soll das Junge sich vor raubgierigen Vögeln hüten, nämlich dem Hochmut und dem Ehrgeiz. Die wollen immer höher und höher hinaufsteigen, andere Vögel übertreffen und die hassen, die niedriger sind als sie. Vor diesen soll das Junge sich in Acht nehmen, und es soll sich bemühen, im Versteck der Demut zu verharren, so dass es nicht hochmütig auf die Gnadengaben schaut, die es bekommen hat, dass es nicht die verachtet die geringer sind, und weniger Gnade empfangen haben, und denkt sich, besser zu sein als sie.

Drittens soll es sich vor dem Köder in Acht nehmen, der eine Schlinge verbirgt. Hiermit ist die Freude der Welt gemeint. Denn das Gute scheint Lügen auf den Lippen und Lust im Leib zu haben, aber darin verbirgt sich ein Stachel. Unmäßige Lüge leitet nämlich zu unmäßiger Freude, und die Wollust des Körpers bringt Unstetigkeit im Sinn mit sich, woraus Trauer im Tode und vorher Trübsal folgt. Eile dich daher, Tochter, und steig aus deinem Nest durch dein Verlangen nach dem Himmlischen aus. Hüte dich vor den wilden Tieren des Begehrens und vor den Vögeln des Hochmuts. Hüte dich vor dem Köder der eitlen Freude.“
Dann sprach die Mutter zur Braut und sagte: „Hüte dich vor dem Vogel, der mit Teer beschmutzt ist, den alle, die ihn berühren, werden befleckt.

Der Vogel ist die Freundschaft der Welt, unstet wie die Luft, abscheulich durch sein Erwerben von Gunst und seine schlechte Gesellschaft. Kümmere dich nicht um Ehrenbezeugungen, achte nicht auf Gunst, schau nicht auf Komplimente oder Tadel, denn von all dem entsteht Unstetigkeit in der Seele und Verminderung der göttlichen Liebe. Bleib also beständig. Gott, der begonnen hat, dich aus dem Nest zu holen, wird dich nämlich bis zum Tod ernähren, und nach dem Tode wirst du auch keinen Hunger leiden. Er wird dich vor schmerz beschützen und dich im Leben verteidigen, und nach dem Tode sollst du nichts zu fürchten haben.“