28. Kapitel

Die Mutter spricht zur Braut und sagt: ”Ob du mich liebst, meine Tochter?” Sie antwortete: „Lehre mich zu lieben, meine Frau, denn meine Seele ist befleckt von einer falschen Liebe und verführt von einem tödlichen Gift, und deshalb vermag sie nicht, die wahre Liebe zu begreifen.“

Die Mutter sagte: „Ich will dich belehren. Es gibt vier Städte, in denen es vier Flammen gibt – wenn sie nun alle „Flammen“ genannt werden sollen, denn nur die Liebe, wo Gott und die Seele in wahrer Einheit der Tugenden vereint sind, kann mit Recht so genannt werden. Die erste Stadt ist die Stadt der Prüfung, die die Welt ist, in die der Mensch versetzt wird, um herauszufinden, ob er Gott liebt oder nicht, damit er seine Krankheit kennenlernt und sich Tugenden aneignet, durch die er wieder zu Ehren kommen kann, so dass er, nachdem er auf Erden geläutert ist, desto ehrenvoller im Himmel gekrönt werden kann.

In dieser Stadt gibt es eine ungeordnete Liebe, wenn das Fleisch mehr geliebt wird, als die Seele, wenn das Zeitliche eifriger begehrt wird als das Geistliche, wenn das Laster geehrt und die Tugend verachtet wird, wenn die Pilgerreise schöner als die Heimat empfunden wird, und wenn der arme, sterbliche Mensch mehr als Gott gefürchtet und geehrt wird, der in Ewigkeit regiert.

Die zweite Stadt ist die Stadt der Reinigung. Dort wird der Schmutz der Seele abgewaschen. Es gefiel Gott nämlich, solche Plätze einzurichten, wo der, der nachlässig und übermütig war, als er seinen freien Willen hatte, vor seiner Krönung gereinigt werden soll, doch mit Furcht. In dieser Stadt gibt es eine unvollkommene Liebe, denn man liebt Gott in der Hoffnung, dass man aus der Gefangenschaft befreit wird – nicht mit innerlicher Liebe, und das auf Grund von Plage und Bitterkeit bei der Buße für die Sünde.

Die dritte Stadt ist die Stadt der Pein. Das ist die Hölle. Dort gibt es die Liebe aller Schlechtigkeit, aller Unreinheit, allen Neides und aller Verhärtung. Gott regiert auch in dieser Stadt, indem er Gerechtigkeit übt durch das rechtmäßige Maß an Strafen, und indem er die Wut der Teufel bändigt, so dass sie keinen über das abgewogene Maß peinigen, das für jeden einzelnen nach seinem Verdienst bestimmt ist. Denn so wie manche der Verdammten mehr gesündigt haben, andere weniger, so sind auch Maße für die gerechte Strafe aller festgelegt.
Alle Verdammten werden sicher im Dunkel eingeschlossen, doch nicht alle auf dieselbe Weise.

Denn Dunkel ist vom Dunkel geschieden, Schrecken von Schrecken, Feuer vom Feuer. Überall steuert und lenkt Gott ja in Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, und das auch in der Hölle, so dass die, die absichtlich gesündigt haben, auf eine Weise gestraft werden, die, die aus Schwachheit sündigten, in anderer Weise, und die, die nur im Fluch der Erbsünde gefangen gehalten wurden, auf eine dritte Art.

Die Plage dieser letztgenannten besteht in der Verweigerung, Gott und das Licht der Auserwählten zu schauen, und sie erhalten Barmherzigkeit und Freude in dem Maße, dass sie nicht zu den schrecklichen Strafen kommen, nachdem sie keine bösen Taten begangen haben. Wenn Gott nicht alles in bestimmter Anzahl und Maß verteilt hätte, hätte der Teufel nie das rechte Maß, die Seelen zu peinigen.

Die vierte Stadt ist die Stadt der Ehre. Dort herrscht völlige und wohlgeordnete Liebe, denn man begehrt nichts anderes als Gott und um Gottes willen. Damit du zu dieser Stadt der Vollkommenheit gelangst, musst du eine vierfache Liebe haben, nämlich eine wohlgeordnete, reine, wahre und vollkommene. Wohlgeordnet ist die Liebe, womit das Leibliche nur um des Unterhalts willen geliebt wird, die Welt nicht wegen des Überflusses, der Nächste Gott zuliebe, der Freund zur Reinheit des Lebenswandels und der Feind um der Belohnung willen.

Rein ist die Liebe, wenn das Laster nicht zugleich mit der Tugend geliebt wird, wenn die schlechte Gewohnheit verschmäht und die Sünde nicht leichtgenommen wird. Wahr ist die Liebe, wenn Gott mit allem Verlangen und von ganzem Herzen geliebt wird, wenn man bei allen Handlungen an Gottes Ehre und an die Furcht vor ihm denkt, wenn man sich nicht im Vertrauen auf gute Werke auf irgendeine Sünde einlässt, auch nicht die kleinste, wenn man weise Maß hält, so dass man nicht vor allzu großem Eifer ermüdet, wenn man nicht aus Kleinmut und Unkenntnis von Versuchungen eine Neigung zur Sünde aufkommen lässt.

Aber vollkommen ist die Liebe, wenn dem Menschen nichts so lieb ist wie Gott. Das fängt in diesem Leben an, gelangt aber im Himmel zur Vollkommenheit. Liebe daher diese vollkommene und wahre Liebe, denn ein jeder, der sie nicht hat, wird gereinigt werden – auch wenn er treu, eifrig, demütig und in der Taufe wiedergeboren ist; sonst wird er in die Stadt des Schreckens gelangen.

Denn wie es ein Gott ist, so gibt es in der Kirche Petri einen Glauben, eine Taufe und eine vollkommene Ehre und Belohnung. Deshalb muss der, der zu dem einzigen Gott gelangen will, einen Willen und eine Liebe mit dem einen Gott haben. Daher sind die Menschen niederträchtig, die sagen: „Es reicht zu, wenn ich im Himmel der Geringste bin; ich will gar nicht vollkommen sein. „O, welch törichter Gedanke! Wie könnte dort jemand unvollkommen sein, wo alle vollkommen sind, manche durch die Unschuld ihres Lebens, manche durch die Unschuld ihrer Kindheit, manche durch ihre Reinigung, manche durch ihren Glauben und guten Willen?“