70. Kapitel

Die Mutter (Maria) spricht: „Als die Pein meines Sohnes bevorstand, waren Tränen in seinen Augen und Schweiß auf seinem Körper, aus Furcht vor dem Leiden. Und er wurde gleich aus meinen Blicken entrückt, und ich sah ihn nicht wieder, bevor er hinausgeführt wurde, um gegeißelt zu werden. Er wurde da zu Boden gestoßen und erhielt einen so heftigen und grausamen Stoß, dass sein Haupt schwankte und die Zähne zusammenschlugen, und er wurde so hart auf den Hals und die Wange geschlagen, dass der Laut des Schlagens bis zu meinen Ohren drang.
Danach zog er sich auf Befehl des Henkers seine Kleider aus, umfasste freiwillig die Geißelsäule, wurde mit einem Riemen festgebunden und mit einer stacheligen Geißel verletzt, deren Stacheln eingedrückt und herausgezogen wurden, so dass sie seinen ganzen Körper zerpflügten. Beim ersten Geißelhieb erhielt ich gleichsam einen Stoß ins Herz und fiel in Ohnmacht.

Als ich nach einer Weile erwachte, sah ich seinen zerschlagenen Körper. Er war ganz nackt gewesen, als er gegeißelt wurde. Da sagte einer seiner Gegner zu den diensthabenden Bütteln: „Wollt ihr diesen Mann ohne ein Urteil töten und die Ursache zu seinem Tode werden?“ Und mit diesem Worten schnitt er das Band ab.
Als mein Sohn von der Säule losgekommen war, wandte er sich zuerst zu seinen Kleidern, aber man gönnte ihm nicht einmal Zeit, sich anzukleiden, denn als man ihn weiterschleppte, war er noch dabei, seine Arme in die Ärmel zu stecken. Die Schritte, die er von der Säule ging, an der er angebunden stand, waren mit Blut gefüllt, so dass ich an dem Blut alle Schritte, die er tat, sehr gut erkennen konnte. Er trocknete sein blutiges Antlitz mit dem Mantel ab.

Nachdem er verurteilt war, wurde er hinausgeführt, wobei er sein Kreuz trug. Aber als er es unterwegs trug, bekam er einen Ersatzmann. So kam er an den Platz der Kreuzigung, und dort lagen ein Hammer und vier spitze Nägel bereit. Gleich zog er sich auf Befehl die Kleider aus, und man reichte ihm ein kleines Leinenkleid, mit dem er die Lenden bedeckte, und was er selbst, gleichsam damit getröstet – mithalf, sich umzubinden. Das Kreuz war aufgerichtet und sein Querbalken aufgerichtet, so dass der Schnittpunkt des Kreuz unter seinen Achseln war. Das Kreuz gab dem Haupt keinen Ruhepunkt, und die Tafel mit der Inschrift war auffallend an beiden Armen des Kreuzes oberhalb seines Hauptes befestigt.

Auf Befehl legte er sich mit dem Rücken auf das Kreuz, und darum gebeten, streckte er erst die rechte Hand aus und danach die andere, die nicht bis zum anderen Ende des Querbalkens reichte, sondern grausam ausgedehnt werden musste. Und die Füße wurden ebenso bis zu den Bohrlöchern ausgespannt, übereinandergelegt und da, wo die Knochen am härtesten waren, mit zwei Nägeln am Stamm des Kreuzes befestigt, wie man es auch mit den Händen gemacht hatte.

Beim ersten Hammerschlag wurde ich außer mir vor Schmerz und feil in Ohnmacht, und als ich wieder zu mir kam, sah ich meinen Sohn gekreuzigt. Ich hörte, wie Menschen miteinander sprachen. Einige fragten: „Wieso hat er sich schuldig gemacht? Diebstahl, Raub oder Lüge?“ Andere antworteten, dass er ein Lügner war.
Man drückte die Dornenkrone fest auf sein Haupt, so dass sie bis mitten über die Stirn ging, viele Blutströme flossen von den Dornenstichen nieder auf sein Angesicht und füllten die Haare, die Augen und den Bart, so dass man fast nichts anderes sah, als Blut in seinem Antlitz, und er konnte mich, die neben dem Kreuz stand, auch nicht sehen, wenn er nicht das Blut dadurch entfernte, dass er die Augenlider zusammendrückte.

Er vertraute mich seinem Jünger an, hob die Stimme gleichsam aus der Tiefe der Brust, hob das Haupt, wandte die weinenden Augen gen Himmel und rief: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Die Stimme konnte ich nie vergessen, bevor ich in den Himmel kam. Sein Ausruf war mehr aus Rührung über meinen Schmerz veranlasst, als über seinen eigenen.
Nun kam die Leichenblässe in die Glieder, die man am Blut erkennen konnte; die Wangen sanken ein bis zu den Zähnen, die Rippen wurden beinah bloß, und man konnte sie zählen, die Brust sank zum Rücken hin ein, nachdem alle Flüssigkeit ausgeflossen war, die Nase wurde dünner und das Herz brach, wobei sein ganzer Körper bebte und sein Kinn auf die Brust fiel.

Außer mir, sank ich zu Boden. Der Mund öffnete sich bei ihm, als er starb, so dass man die Zunge, die Zähne und das Blut darin sehen konnte. Die Augen waren halb offen und nach unten gerichtet, und der tote Körper hing schlaff und lose da. Die Knie bogen sich nach einer Richtung, und die Füße bogen sich über den Nägeln wie Türhaken in eine andere Richtung.

Ein paar Menschen, die da standen, sagten höhnisch: „Nun ist dein Sohn tot, Maria!“ Aber andere, die größeren Verstand besaßen, sagten: „O Frau, die Pein deines Sohnes ist nun zu seiner ewigen Ehre beendet!“
Eine kurze Zeit später öffnete man seine Seite, und als die Lanze herausgezogen wurde, zeigte sich an der Spitze dunkles Blut, so dass man daran erkennen konnte, dass das Herz durchstochen war.

Der Stich ging auch durch mein Herz, und es war sonderbar, dass es nicht brach wie seines.
Andere gingen davon, aber ich konnte nicht fortgehen, sondern mir war es wie ein Trost, als sein Leib vom Kreuz abgenommen wurde, und ich konnte ihn berühren und ihn in meinen Schoß legen, die Wunden abdecken und das Blut abtrocknen. Dann schlossen meine Finger seinen Mund, und ich drückte ihm ebenso die Augen zu. Aber seine Steifgewordenen Arme konnte ich nicht biegen; sie konnten also nicht über der Brust zusammengelegt werden, sondern über dem Magen. Die Knie konnte ich auch nicht ausstrecken, sondern sie standen hoch, wie sie am Kreuz steif geworden waren.“

Weiter sagte die Mutter: „Du kannst meinen Sohn nicht zu sehen bekommen, so wie er im Himmel ist. Aber du sollst wissen dürfen, wie er in körperlicher Gestalt hier auf Erden war. Er war so anmutig in seinen Gesichtszügen, dass niemand, auch wenn er Herzenskummer hatte, sein Antlitz sehen konnte, ohne durch seinen Anblick getröstet zu werden. Die Gerechten hatten daran geistliche Freude, und sogar die Schlechten vergaßen ihre weltlichen Sorgen, so lange sie ihn betrachteten. Und deshalb pflegten die Leidenden zu sagen: „Lasst uns gehen und Maria’s Sohn sehen, so dass wir wenigstens die Stunde Linderung verspüren.“

Im zwanzigsten Jahre seines Lebens war er vollkommen an männlicher Größe und Kraft. Er hatte die Durchschnittslänge der damaligen Menschen, war nicht besonders füllig, sondern wohlgebaut mit Sehnen und Knochen. Sein Haar, seine Augenbrauen und sein Bart waren von hellbrauner Farbe, und der Bart war so lang wie eine Handbreit. Die Stirn war weder vor – noch zurückgesetzt, sondern gerade. Die Nase war von normaler Größe, weder zu klein noch zu groß.

Seine Augen waren so klar, dass sogar seine Gegner Freude daran hatten, ihn zu betrachten. Die Lippen, die nicht dick waren, waren rot und klar. Das Kinn war nicht vorgeschoben oder zu lang, sondern schön und von männlicher Größe. Die Wangen waren ein wenig füllig. Seine Hautfarbe war weiß, mit hellrot gemischt, und seine Gestalt war gerade. Es gab keinen Fleck auf seinem ganzen Körper; das konnten die bezeugen, die ihn ganz nackt gesehen und ihn gegeißelt haben, als er an der Säule festgebunden war. Niemals ist irgendein Wurm an ihn gekommen, und auch keinerlei Unordnung oder Unsauberkeit in seinem Haar.