Neunter Fragenkreis

Erste Frage: Als dies gesagt war, zeigte sich der Mönch auf seiner Leiter wie vorher und sagte: „O Richter, ich frage dich: Warum scheinst du so ungleich im Verteilen deiner Gnadengaben, dass du deine Mutter Maria vor allen anderen Geschöpfen auserwählt und sie über die Engel erhört hast?

Zweite Frage: „Warum hast du den Engeln einen Geist ohne einen Körper gegeben und die Gnade verliehen, in der himmlischen Freude zu wohnen, während du dem Menschen ein irdisches Gefäß und Geist gegeben hast – und das Los, mit Weinen geboren zu werden, mit Mühe zu leben und unter Schmerzen zu sterben?“

Dritte Frage: „Warum hast du weiter dem Menschen Verstand und Denkvermögen und Sinne gegeben, wenn du den Tieren keinen Verstand gegeben hast?“

Vierte Frage: „Warum hast du den Tieren Leben gegeben, wenn du den übrigen, Geschöpfen, die kein Denkvermögen haben, dies nicht gegeben hast?“

Fünfte Frage: „Und warum ist es nachts nicht ebenso hell wie am Tage?“

Antwort auf die 1. Frage.
Der Richter antwortete: „Mein Freund, in meiner Gottheit ist das kommende und Zukünftige von Anfang an bekannt, ebenso wie das bereits Geschehene. Der Fall des Menschen war im Voraus bekannt und durch Gottes Gerechtigkeit zugelassen, doch wurde er nicht von Gott veranlasst und sollte nicht auf Grund von Gottes Vorherwissen geschehen. Ebenso war die Befreiung der Menschen, die durch Gottes Barmherzigkeit erfolgen sollte von Ewigkeit vorhergesehen.

Du fragst nun, warum ich meine Mutter Maria vor allen anderen auserwählte und sie mehr als alle anderen Geschöpfe geliebt habe. Das geschah deshalb, dass ein besonderer Glanz von Tugenden bei ihr anzutreffen war. Wenn man ein Feuer anzündet und mehrere Holzstücke darum herumlegt, so entzündet es sich rascher, was dienlicher ist und besser vom Feuer verzehrt wird.

So verhält es sich auch mit Maria. Denn als das Feuer der göttlichen Liebe, das an sich unveränderlich und ewig ist, entzündet und sichtbar wurde und die Gottheit Menschengestalt annehmen wollte, da war kein geschaffenes Wesen besser imstande, dieses Liebesfeuer zu empfangen, als die Jungfrau Maria, denn kein Geschöpf war so reich an Liebe, wie sie. Und obwohl ihre Liebe offenbar wurde und bei der Erfüllung der Zeilen sichtbar wurde, war sie doch seit Anbeginn der Welt vorausgesehen, und so war es von Ewigkeit her in der Gottheit vorgeschrieben, dass wie es gleichsam niemanden gab, der ihr an Liebe gleich war, so sollte ihr auch keiner an Gnade und an Segen gleich sein.“

Antwort auf die 2. Frage.
„Auf die Frage, warum ich den Engeln Geist und keinen Leib gab, antworte ich weiter: Im Anfang und vor den Zeiten und der Welt erschuf ich die Geister, damit sie nach meinem Willen ihren freien Willen genießen und sich über meine Güte und Ehre freuen sollten. Jedoch erhoben sich manche von ihnen darüber, wandten für sich das Gute zum Bösen und benutzten ihren freien Willen auf ungeordnete Weise. Nur weil es in der Natur und Schöpfung nichts anderes Böses als die Unordnung des eigenen Willens gibt, so sind sie gefallen. Aber die anderen Geister wählten, mir, ihrem Gott, in Demut zu dienen, und dafür verdienten sie ewige Standhaftigkeit.

Es ist nämlich angebracht und richtig, dass ich, Gott, der ein ungeschaffener Geist und aller Schöpfer und Herr ist, auch Geister in meinem Dienst habe, die zarter und leichter als andere Geschöpfe sind. Aber da es nicht passte, dass ich eine Verminderung in meiner Heerschar hinnahm, daher erschuf ich an ihrer Stelle, die gefallen waren, ein anderes Wesen, nämlich den Menschen, der durch seine freie Wahl und seinen guten Willen dieselbe Würde verdienen sollte, die die Engel aufgegeben haben. Aber wenn der Mensch nur eine Seele und keinen Körper hätte, hätte er nicht ein so hohes Gut erworben und nicht dafür arbeiten können. Der Leib wurde also mit der Seele vereint, damit der Mensch die ewige Ehre erwerben kann.

Mühsale treffen den Menschen, damit er seinen freien Willen und seine Schwächen erforscht und nicht hochmütig wird, ferner, damit er die Herrlichkeit ersehnt, für die er geschaffen ist, und den Ungehorsam wieder gut macht, dessen er sich freiwillig schuldig gemacht hat. Durch die göttliche Gerechtigkeit wurde ihm ein kläglicher Eingang (ins Leben) und Ausgang sowie ein mühseliges Leben auferlegt.“

Antwort auf die 3. Frage.
„Auf die Frage, warum die Tiere keinen Verstand und kein Denkvermögen wie die Menschen haben, antworte ich weiter: Alles, was geschaffen ist, ist zum Nutzen des Menschen da, für seinen Unterhalt oder seine Unterweisung, Zucht, Erquickung und Demütigung. Aber wenn die Tiere Verstand hätten wie der Mensch, wären sie dem Menschen sicher beschwerlich und zum Schaden, statt ihm zu nützen. Damit dem Menschen alles unterworfen sei, ihm, um dessentwillen alles gemacht ist, und alles ihn fürchtet, aber er selbst nichts anderes fürchtet als mich, seinen Gott – deshalb haben die Tiere keinen Verstand und kein Denkvermögen bekommen.“

Antwort auf die 4. Frage.
„Auf die Frage, warum das, was keine Sinne hat, kein Leben hat, antworte ich weiter: Alles, was lebt, ist sterblich, und jedes Lebewesen bewegt sich, sofern es nicht von etwas gehindert wird. Wenn das, was keine Sinne hat, Leben hätte, würde es sich eher gegen den Menschen stellen, als für ihn. Damit dem Menschen alles zur Freude dient, sind ihm die höheren Dinge, nämlich die Engel, zu seinem Schutz gegeben, mit denen er den Verstand und die Unsterblichkeit der Seele gemeinsam hat, während die niederen Wesen (mögen sie Sinne haben oder nicht) ihm zum Nutzen und zum Unterhalt, zur Unterweisung und fleißiger Übung gegeben sind.“

Antwort auf die 5. Frage.
„Auf die Frage, warum es nicht jederzeit Tag ist, antworte ich dir mit einem Gleichnis. Unter jedem Wagen befinden sich Räder, damit die Fuhre schneller befördert werden kann; dabei folgen die Hinterräder den Vorderrädern. In gleicher Weise verhält es sich mit dem Geistigen. Die Welt ist nämlich eine große Fuhre, die den Menschen mit Kummer und Mühsal belastet. Das ist auch nicht merkwürdig, denn als der Mensch den Platz der Ruhe verschmähte, war es nur gerecht, dass er mit einem Arbeitsplatz Bekanntschaft stiften musste.

Damit die Bürde dieser Welt vom Menschen leichter zu tragen ist, ist es barmherzig so geordnet, dass die Zeiten wechseln, und Tag auf Nacht, Wärme auf Kälte folgt – zur Übung und zur Ruhe des Menschen. Es ist ja doch vernünftig, dass da, wo Gegensätze zusammentreffen, nämlich das Starke und das Schwache, dem Schwachen nachgegeben werden soll, damit es neben dem Starken bestehen kann; sonst würde das Schwache ja vernichtet werden.

So ist es auch mit dem Menschen. Wenn er auch durch die unsterbliche Kraft der Seele ständig in Betrachtung und Arbeit leben könnte, würde er doch auf Grund der Schwachheit des Körpers verkümmern, und deshalb wurden Licht und Nacht geschaffen; das Licht dafür, dass der Mensch sein Los mit den höheren und niederen Dingen teilen kann, am Tage arbeiten und sich an die Lieblichkeit des ewigen Lichtes erinnern kann, das er verloren hat; die Nacht dafür, dass er seinen Körper ausruht und willig ist, an den Platz zu kommen, wo es weder Nacht noch Arbeit gibt, sondern ewigen Tag und immerwährende Ehre.“