3. Kapitel

Christus spricht): Die Schrift, die ihr „Bibel“ nennt, und die wir die „goldene Schrift“ nennen, sagt, dass ein Armer durch seine Weisheit eine von einem Feldherrn belagerte Stadt rettete, und dass sich nachher keiner an den armen Mann erinnerte. Diese Stadt ist der menschliche Körper, der vom Teufel aus vier Richtungen belagert wird, da er den Menschen durch eine vierfache Sünde belagert – d.h. durch Ungehorsam gegen Gottes Gebot, durch Übertretung der Naturgesetze, durch verderbliche Lüsternheit und durch Verhärtung der Sinne.

Das menschliche Geschöpf hat meine allerheiligste Mutter (Maria) in gewisser Weise befreit, als sie ihren ganzen Willen meinen Händen anvertraute und willens war, alle Trübsal zu erleiden, damit die Seelen erlöst würden. Die wahre göttliche Weisheit besteht nämlich darin, sein ganzes Wollen und Können Gott anzuvertrauen und auch bei Unglücksfällen Gott zuliebe froh zu sein. Auf Grund dieses Willens bin ich, Gott, von Ewigkeit her Gottes Sohn, in der Jungfrau Mensch geworden, deren Herz wie mein Herz war.
Ich kann also mit Recht sagen, dass meine Mutter und ich den Menschen erlöst haben wie mit einem Herzen, indem ich im Herzen und im Fleisch gelitten habe, und sie in der Trauer und Liebe des Herzens. Diese Jungfrau war in Wahrheit arm, denn sie begehrte nichts von Reichtümern der Welt, und nicht einmal die kleinste Sünde belastete ihren Geist.

Manche sind arm an Besitztümern, aber reich im Geist, nämlich (arm) an Gewinnsucht und Hochmut. Das sind nicht die Armen, von denen ich in meinem Evangelium gesprochen habe. Andere sind reich an Besitzungen, und leer an Geist. Sie sehen, dass sie Staub und Asche sind, erinnern sich an ihre Sterblichkeit und sehnen sich danach, bei Gott zu sein; nur zum Lebensnotwendigen und zum Nutzen des Nächsten haben sie Reichtümer. Diese sind in Wahrheit arm, aber doch reich in Gott, und unter ihnen war auch meine Mutter. Aber diese Weisheit und Armut meiner jungfräulichen Mutter sind fast vergessen, denn auch wenn man sie mit dem Munde rühmt, sind es doch nur wenige, die mit ihrem ganzen Herzen zu ihr rufen und den Fußspuren ihrer Liebe nachfolgen.

Weil nun Gottes Ehre siebenmal am Tage in Gottes Kirche von vielen nach Sitte der alten Väter besungen wird, deshalb will ich, dass die Brüder erst ihre Stundengebete zu festgesetzten Zeiten singen, worauf die Schwestern ihr Offizium etwas langsamer ausführen sollen. Diese Siebenzahl ist nach Sonnenuntergang nicht festgesetzt, sondern sie sollen das so halten, wie sie können – nur sollen sie soweit wie möglich den Glockenschlag beachten.

Und dies bestimme ich, der selbst die Regel diktiert hat, damit auch die Heiden, die bekehrt werden sollen, wissen sollen, welche Ehre Gott seiner Mutter widerfahren lassen wollte, und weil sie Haupt und Herrin dieses Klosters ist, und ich durch sie den Sündern Erbarmen widerfahren lassen will, und damit dieses Wort der Schrift erfüllt wird: „Ich werde Gott preisen jederzeit und mein ganzes Leben“ – deshalb soll diese besondere Gnade nicht verweigert werden, denn etwas besonderes Gutes bildet kein Hindernis für das allgemeine Gute. Und die lobenswerte Gewohnheit der Väter soll deshalb nicht aufgegeben werden, sondern es ist mir wohlgefällig, dass man in anderen Kirchen erst die Stundengebete meiner jungfräulichen Mutter liest und darauf die Gebete des betreffenden Tages nach den festgesetzten Glockenschlägen singt.“