50. Kapitel

Maria sprach und sagte: „Gesegnet seist du, mein allerliebster Sohn, ohne Anfang und ohne Ende, denn in dir sind drei Dinge vorhanden: Macht, Weisheit und Tugend. Macht zeigtest du bei der Erschaffung der Welt, die du aus Nichts geschaffen hast, Weisheit hast du beim Einrichten der Welt gezeigt, indem du weise und verständig alles im Himmel und auf dem Land und im Meer eingerichtet hast, und Tugend zeigtest du in höchstem Grade, als du mit ihm gesandt wurdest, der dich in meinen Mutterleib gesandt hat.

Neben diesen drei Dingen hast du noch zwei andere, nämlich Barmherzigkeit und Gerechtigkeit. All deine Macht zeigst du ja in Barmherzigkeit und Gerechtigkeit. Ebenso hast du alle Weisheit gezeigt, als du alles barmherzig eingerichtet hast, und als du mannhaft mit dem starken (Teufel) strittest und ihn weise besiegt hast. Du hast auch deine Tugend in aller Barmherzigkeit und Gerechtigkeit gezeigt, als du von mir geboren werden wolltest und den erlösen wolltest, der durch sich selber fallen konnte, aber nicht ohne dich aufstehen konnte.“

Der Sohn erwiderte: „Gesegnet seist du, Mutter des Königs der Ehre und Herrscherin der Engel! Deine Worte sind lieblich und vollkommen wahr. Du hast wohlgetan, zu sagen, dass ich alles in Barmherzigkeit und Gerechtigkeit tue. Das ging im Anfang aus dem Schöpfungsakt hervor, als die Engel erschaffen wurden. In demselben Augenblick, als diese geschaffen wurden, sahen sie in ihrem Gewissen, wie ich bin, obwohl sie mich noch nicht erfasst hatten. Daher benutzten manche von ihnen weise ihre Willensfreiheit und beschlossen in ihrem Gewissen, aus Liebe zu meinem Willen unerschütterlich fest zu stehen. Aber andere waren hochmütig und richteten ihren Willen gegen mich und die Vernunft. Deshalb war es auch gerecht, dass die Hochmütigen fielen, aber dass die Gerechten meine Süßigkeit schmecken konnten und in ihrer Standhaftigkeit festblieben.

Um dann meine Barmherzigkeit zu zeigen, und damit der Platz der Gefallenen nicht leer stehen sollte, habe ich aus Liebe den Menschen auf der Welt geschaffen. Auch er ist durch seinen freien Willen gefallen, hat sein erstes Gute verloren und wurde aus der Glückseligkeit vertrieben – doch wurde er um meines Erbarmens willen doch nicht ganz preisgegeben. Das war gerecht, denn wie er durch seinen freien Willen von seinem ersten Zustand abgewichen war, so sollte er auch durch seinen freien Willen umkehren – und das durch ihn, der keine Sünde hatte, sondern die höchste Reinheit.

Jedoch gab es niemanden, der die Forderungen der Gerechtigkeit für sich selbst erfüllen konnte, und noch weniger zur Erlösung anderer. Keiner, der geboren war, war auf Grund des ersten Ungehorsams frei von Sünde. Aber in seiner Barmherzigkeit sandte Gott in die Saat des Menschen eine von Gott geschaffene Seele, damit er standhaft warten sollte, bis der Beste und Reinste kommen würde – er, der im Stand sein würde, den Liegenden wieder aufzurichten, so dass sich nicht der Teufel auf ewig über seinen Fall freuen könnte.

Deshalb gefiel es auch Gottvater, als die wohlgefällige, von Ewigkeit vorherbestimmte Zeit da war, mich, seinen Sohn mit sich selbst und dem Heiligen Geist in deinen gesegneten Schoß zu senden und mich aus zwei Gründen durch dich Fleisch und Blut annehmen zu lassen: Erstens dafür, dass der Mensch keinem anderen dienen sollte als seinem Gott, seinem Schöpfer und Erlöser, zweitens, damit ich die Liebe zeigen könnte, die ich für den Menschen hege, und die Gerechtigkeit, dass ich, der keine Sünde begangen hat, aus Liebe starb, damit der (Mensch), der gefangen gehalten wurde, gerecht erlöst würde.

Deshalb liebste Mutter, hast du gut gesagt, dass ich alles in Gerechtigkeit und Barmherzigkeit getan habe. Gesegnet seist du, denn du warst so lieblich, dass es der Gottheit gefiel, zu dir zu kommen und sich nie von dir zu trennen. Du warst so rein wie das reinste Haus, duftend von allem Wohlgeruch der Tugenden und geschmückt mit aller Schönheit. Du warst so brennend wie ein klarer, brennender Stern, der nie verlöscht; du branntest mehr als alle anderen vor Liebe zu mir, und deine Liebe ist niemals erloschen.

Von dir kann man mit Recht sagen, dass du voll von Liebe und Barmherzigkeit bist, denn die Liebe von allen erblühte durch dich, und alle finden Barmherzigkeit durch dich, nachdem du in dir die Quelle der Barmherzigkeit beschlossen hast, von deren überströmendem Reichtum auch deinem schlimmsten Feind, dem Teufel, Barmherzigkeit anbieten würdest, wenn er demütig darum bitten würde. Bitte daher, wenn du willst, so wird es dir gegeben werden!“

Die Mutter antwortete: „Mein Sohn! Von Ewigkeit her ist dir mein Begehren bekannt. Aber damit diese deine Braut das Geistliche versteht, bitte ich dich, dass deine Worte, die du geruht hast, zu offenbaren, im Herzen deiner Freunde Wurzel schlagen und in der Tat vollkommen werden!“

Der Sohn erwiderte: „Gesegnet seist du von der ganzen Heerschar des Himmels! Du bist wie eine Morgenröte, die in aller Klarheit der Dämmerung aufsteigt. Du bis wie ein Stern, der vor der Sonne hergeht, denn du übertriffst meine Gerechtigkeit mit deiner Milde. Du bist eine weise Mittlerin, die Frieden stiftet zwischen denen, die zersplittert sind, nämlich dem Menschen und Gott. Daher soll dein Gebet erhört und meine Worte vervollkommnet werden, wie du willst. Aber weil du alles in mir siehst und weißt, sollst du deiner Tochter, meiner Braut, mitteilen, wie diese Worte auf der Welt auftreten, und wie sie mit Barmherzigkeit und Gerechtigkeit veröffentlicht werden sollen.

Ich bin wie ein (Raub-) Vogel, der nichts anderes fressen möchte als frisches Vogelherz, der nichts anderes trinken möchte, als reines Blut vom Vogelherzen, und dessen Auge so scharf ist, dass er bei den fliegenden Vögeln beurteilen kann, wie weit ihr Herz noch frisch oder verdorben ist, und der deshalb keine anderen Vögel nimmt als die, die ein frisches Herz haben. Ich bin ein solcher Vogel, denn ich möchte nur ein frisches Herz, nämlich eine Menschenseele, die frisch durch ihre guten Werke und ihre göttlichen Begierden ist; das Blut ihrer Liebe möchte ich trinken. Meine Nahrung besteht aus einer brennenden Liebe zu Gott und einer von Sünden gereinigten Seele.

Da ich also liebevoll und gerecht bin und mich nur nach denen sehne, die vor Liebe brennen, deshalb sollen meine Worte auf der Welt mit Gerechtigkeit und Barmherzigkeit auftreten. Mit Gerechtigkeit, so dass der Mensch mir nicht aus Furcht vor meinen Worten dient und nicht dazu neigt, mir wie aus fleischlicher Süßigkeit zu dienen, sondern aus göttlicher Liebe, die aus innerlicher Betrachtung meiner Werke und aus dem Bewusstsein der eigenen Sünden hervorgeht.

Wer diese beiden Dinge mit Fleiß bedenkt, der soll Liebe finden, und er wird finden, dass ich alles Guten wert bin. Meine Worte sollen auch mit Barmherzigkeit auftreten, so dass der Mensch bedenkt, dass ich bereit bin, Erbarmen zu zeigen, und so dass er seinen Gott versteht, den er vergessen hat, und der die Sünder bessern kann.“