47. Kapitel

Ich bin der Gott, der früher den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs genannt wurde. Ich bin der Gott, der Mose das Gesetz gab. Das Gesetz war wie in einer Kleidung. Denn wie eine Mutter, die ein Kind im Mutterleib trägt, dem Kinde Kleider beschafft, so habe ich, Gott, das Gesetz beschafft, das nur ein Gewand und ein Schatten und ein Zeichen dessen war, was hernach geschehen würde.

Ich habe mich in die Gewänder dieses Gesetzes gekleidet und eingehüllt. Und wie ein Kind aufwächst, sein altes Kleid ablegt und ein neues anzieht, so habe ich das Gewand des alten Gesetzes abgelegt, als es verbraucht war, und habe das neue Gewand angezogen, nämlich das neue Gesetz, und allen, die sie haben wollten, gab ich Kleider, so wie ich sie habe.
Diese Kleidung ist nicht eng oder schwer zu tragen, sondern überall gut angepaßt. Sie ist nicht dazu da, dass man fasten oder übermäßig arbeiten, sich selber umbringen oder etwas tun soll, was über die Möglichkeiten hinausgeht, sondern sie ist passend und geeignet, Leib und Seele zu zügeln und zu kasteien. Denn wenn der Leib an der Sünde festhält, verzehrt diese Sünde auch den Leib.

In dem neuen Gesetz gibt es nun zwei Dinge. Erstens ein kluges Maßhalten und einen rechten Gebrauch aller Dinge für Leib und Seele. Zweitens die Bereitschaft, das Gesetz leicht zu befolgen, denn wer in dem einen nicht feststehen kann, kann es in einem anderen.

Daraus folgt, dass der, der nicht jungfräulich leben kann, dem steht es frei, eine Ehe einzugehen, und wer fällt in die Sünde, mag sich wieder erheben. Aber dieses Gesetz wird jetzt von der Welt verworfen und verachtet. Die Leute sagen nämlich, dass es eng, schwer und unförmig ist. Sie nennen das Gesetz eng, weil es vorschreibt, dass man sich mit dem begnügen soll, was notwendig ist, und den Überfluß verabscheuen soll. Diese wollen dagegen alles ohne vernünftiges Maß besitzen, indem sie wie das Vieh das begehren, was über die Körperkräfte geht, und deshalb ist ihnen das Gesetz zu eng.
Zweitens sagen sie, dass es schwer ist, denn es sagt, dass man etwas in vernünftigem Maß und nach festen Zeiten genießen soll, aber diese Menschen befriedigen ihre Genusssucht mehr, als was nützlich ist und mehr, als was vorgeschrieben ist.

Drittens sage ich, dass das Gesetz mir unvollkommen ist, denn es gebietet uns, die Demut zu lieben und Gott alles Gute zuzuschreiben. Diese Leute dagegen wollen sich erheben und äußern ihren Hochmut über die guten Dinge, die ihnen Gott gegeben hat. Sieh, so verachtet ist mein Gewand. Ich habe all das Alte vervollständigt und habe so das neue begonnen, denn das alte war sehr schwer, und es war meine Absicht, dass das neue bleiben sollte, bis ich komme, Gerichte zu halten.
Aber sie haben das Gewand schamlos weggeworfen, womit die Seele umhüllt wird, nämlich den rechten Glauben. Dazu häufen sie Sünde auf Sünde, denn sie wollen mich sogar verraten. Sagt David nicht im Psalm: „Der, der mein Brot gegessen hat, dachte an Verrat gegen mich?“

Mit diesen Worten will ich, dass du dich an zwei Dinge erinnern sollst. Erstens, dass er nicht sagt „denke“, sondern „dachte“, als ob es etwas beträfe, was schon vergangen ist. Zweitens, dass er mit diesen Worten nur einen einzigen Menschen bezeichnet, der Verrat geübt hat. Ich sage dagegen, dass diesen meine Verräter sind, die es jetzt gibt, nicht die, die einmal gewesen sind oder die kommen sollen, sondern die, die jetzt leben. Ich sage auch, dass es nicht nur ein einziger Mensch ist, sondern viele.
Aber nun kannst du vielleicht fragen: „Gibt es nicht zwei Brote, ein unsichtbares und geistliches, von dem die Engel und Heiligen leben, und ein irdisches, von dem die Menschen essen? Aber die Engel und Heiligen wollen ja nichts anderes als das, das nach deinem Willen ist, und die Menschen können auch nichts anderes, als was dir behagt. Wie können sie dich dann verraten?“

Ich will dir im Beisein meiner himmlischen Heerschar antworten; sicher weiß und sieht sie alles in mir, aber ich rede deinetwegen, dass du es wissen sollst. Es gibt tatsächlich zwei Brote. Eines ist das Brot der Engel. Die Engel essen mein Brot in meinem Reich, auf dass sie von meiner unsagbaren Herrlichkeit gesättigt werden. Sie verraten mich ja nicht, sondern sie wollen nichts anderes, als was ich will.

Aber mich verraten die, die mein Brot am Altar essen. Ich bin in Wahrheit dieses Brot. Dieses Brot hat drei Eigenschaften: Gestalt, Geschmack und Rundung. Ich bin in Wahrheit dieses Brot. Ebenso wie das Brot habe auch ich drei Eigenschaften: Geschmack, Gestalt und Rundung. Ich habe Geschmack, denn so wie jede Speise geschmacklos und ohne Kraft ist, wenn das Brot fehlt, so ist alles, was es gibt, ohne mich geschmacklos, kraftlos und eitel.
Ich habe ferner die Gestalt des Brotes, weil ich ja von Erde bin. Ich bin ja von meiner jungfräulichen Mutter geboren, aber meine Mutter stammt von Adam ab, und Adam von der Erde. Ich habe auch die runde Form, in der es keinen Anfang und kein Ende gibt. Niemand kann ein Ende oder einen Anfang in meiner Weisheit, Macht oder Liebe sehen oder finden.

Ich bin in allem, über allem und außerhalb von allem. Ja, wenn jemand wie ein Pfeil ohne Aufenthalt und in Ewigkeit fliegen würde, würde er doch ein Ende oder einen Grund von meiner Macht und Tugend finden. Auf Grund dieser drei Eigenschaften – nämlich Geschmack, Gestalt und runder Form, bin ich das Brot, das auf dem Altar zu sehen und zu spüren ist, aber in meinen Leib verwandelt wird, der gekreuzigt wurde.
Denn wie ein trockenes und leicht brennbares Holzstück, wenn es aufs Feuer gelegt wird, schnell verzehrt wird und nichts von der Gestalt des Baumes übrigbleibt, sondern alles zu Feuer wird, so wird bei den Worten „Hoc est corpus meum“, das, was vorher Brot war, gleich mein Leib, aber es wird nicht vom Feuer, sondern von meiner Göttlichkeit wie Holz verbrannt.

Daher wurde ich von denen verraten, die mein Brot essen. Welcher Mord kann abscheulicher sein als der, wenn jemand sich selbst ums Leben bringt? Und welcher Verrat ist niedriger, als wenn zwei mit einem unlösbaren Band vereint sind, wie es mit zwei Eheleuten der Fall ist, und der eine den anderen verrät?
Was tut nun der Mann, wenn er seine Frau verraten will? Ja, er sagt scheinheilig zu ihr: „Laß uns an den und den Platz gehen, damit ich meinen Willen mit dir vollenden kann.“ Sie geht in aller Einfalt mit ihm, zu allem bereit, was ihr Gatte will. Aber wenn er eine Passende Zeit und einen geeigneten Platz findet, wendet er eines dieser drei Mittel an, sie ums Leben zu bringen: Entweder etwas so Schweres, dass es sie mit einem Schlage tötet, oder etwas so Scharfes, dass es gleich in ihre Eingeweide dringt, oder etwas, womit ihr Lebensatem gleich erlischt und erstickt wird.

Wenn nun die Gattin tot ist, denkt der Verräter bei sich selbst: „Nun habe ich etwas Böses getan. Wenn meine Untat allgemein bekannt wird, werde ich zum Tode verurteilt.“ Deshalb geht er hin und legt den Leib der toten Hausfrau an einen heimlichen Platz, damit sein Verbrechen nicht aufgedeckt wird.
So verfahren nun die Priester mit mir, die meine Verräter sind. Sie und ich sind mit einem Band vereint, wenn sie das Brot nehmen und wenn sie es, wenn sie die Worte aussprechen, in meinen wahren Leib verwandeln, den ich von der Jungfrau angekommen habe. Das könnte kein Engel tun, denn nur den Priestern habe ich diese Vollmacht gegeben; ich habe sie zu dem höchsten Amt auserwählt.
Aber nun handeln sie gegen mich wie Verräter, denn sie zeigen mir ein frohes und freundliches Gesicht und führen mich zu einem heimlichen Platz, um mich zu verraten. Diese Priester zeigen ein glattes Gesicht, wenn sie gut und einfältig zu sein scheinen, und sie führen mich vorsätzlich an einen geheimen Platz, wenn sie zum Altar treten. Ich bin dann wie eine Braut oder ein Bräutigam, allen ihren Willen zu tun, aber sie verraten mich.

Erstens legen sie eine Last auf mich, wenn der heilige Gottesdienst, den sie für mich halten, ihnen beschwerlich und zur Last wird. Lieber sprechen sie hundert Worte zur Welt, als ein einziges zu meiner Ehre. Lieber geben sie hundert Mark für die Welt aus, als einen Pfennig für mich. Lieber arbeiten sie hundertfach zu ihrem eigenen Nutzen und den der Welt, als ein Mal für meine Ehre.

Mit dieser schweren Bürde drücken sie mich nieder, so dass ich wie tot in ihrem Herzen bin. Zweitens stechen sie mich wie mit einem scharfen Eisen, das in die Eingeweide dringt. Wenn der Priester zum Altar geht, denkt er nämlich daran, dass er gesündigt hat, und bereut, aber er ist fest entschlossen, von neuem zu sündigen, wenn der Gottesdienst vorüber ist, indem er bei sich selbst denkt: „Wohl bereue ich meine Sünde, aber ich lasse es nicht von mir, womit ich gesündigt habe, um das nicht mehr zu tun.“

Diese Priester stachen mich gleichsam mit dem schärfsten Eisen. Drittens wird gleichsam mein Geist erstickt, wenn sie bei sich denken: „Es ist gut und behaglich, mit der Welt zu leben. Es ist gut, ausschweifend zu leben, und ich kann das nicht aufgeben. Ich will meinen Willen in der Jugend tun; wenn ich alt werde, dann werde ich enthaltsam werden und mich bessern.“ Von diesem abscheulichen Gedanken wird mein Lebensgeist erstickt.

Aber nun kann man fragen, wie ihre Herzen so lauwarm und kühl für mich und alles Gute sind, dass sie sich nie für meine Liebe erwärmen und wieder aufstehen können. Wie eine Flamme nicht aus einem Eisstück auflodern kann, auch wenn es aufs Feuer gelegt wird, sondern das Eisstück stattdessen schmilzt, so können diese Leute, auch wenn ich ihnen meine Gnade schenke und sie ermahnende Worte hören, doch nicht zum Weg des Lebens finden, ohne dass sie verdorren und in allem Guten verkümmern.
So verraten sie mich also, indem sie sich ehrlich zeigen und es doch nicht sind, und weil sie von meiner Ehre belastet und betrübt sind, an der sie doch statt dessen ihre Freude haben sollten, und haben ihren Willen, zu sündigen und nehmen sich vor, bis zuletzt weiter zu sündigen. Und sie vergessen mich gleichsam und versetzen mich an einen geheimen Platz, wenn sie bei sich denken: „Ich weiß, dass ich gesündigt habe, aber wenn ich es unterlasse, das Messopfer zu feiern, stehe ich mit Scham da und werde von allen getadelt.“

Und so gehen sie ungescheut zum Altar und stellen mich vor sich hin und berühren mich, der wahrer Gott und Mensch ist. Ich befinde mich sozusagen mit ihnen an einem geheimen Platz, denn niemand weiß und bedenkt, wie schlecht und ehrlos sie sind, vor denen ich, Gott, wie an einem geheimen Platz liege. Denn auch wenn der schäbigste Mann ein Priester wäre, würde er doch, wenn er die Worte Hoc est Corpus meum ausspräche, meinen wahren Leib weihen, und ich, der wahre Gott und Mensch, würde in seinen Händen liegen.

Aber wenn er mich auf seine Lippen legt, da bin ich nicht durch Gnade mit meiner Gottheit und Menschlichkeit bei ihm gegenwärtig – nein, ich bin fort, und nur die Gestalt und der Geschmack des Brotes bleiben bei ihm. Nicht so, als ob ich für die Bösen ebenso wie für die Guten in Wahrheit anwesend wäre, denn ich bin es kraft der Stiftung des Sakraments. Nein, ich meine, dass dessen Wirkung für die Bösen nicht dieselbe wie für die Guten ist.

Sieh, solche Priester sind nicht meine Priester, sondern wirkliche Verräter, denn sie verkaufen mich, wie es Judas tat, und verraten mich. Ich betrachte Heiden und Juden, aber sehe keine, die schlimmer sind als diese Priester, denn sie sind in derselben Sünde, die den Fall Luzifers herbeiführte.

Nun will ich dir auch ihr Gericht sagen, und wem sie gleichen. Ihr Gericht ist Verfluchung. David verwünschte die, die Gott nicht gehorsam waren, und da er ein gerechter Prophet und König war, verfluchte er sie nicht aus Zorn oder bösem Willen oder Ungeduld, sondern aus Gottes Gerechtigkeit.
So verwünsche ich, der besser ist als David, die, die Priester sind; nicht aus Zorn oder bösem Willen, sondern aus Gerechtigkeit. Verflucht sei daher alles, was sie von der Erde zu ihrem Nutzen nehmen, denn sie preisen ihren Gott und Schöpfer nicht, der ihnen dies gegeben hat. Verflucht sei die Speise und der Trank, der in ihren Mund geht, und der ihren Leib als Speise für die Würmer und ihre Seele für die Hölle nährt.

Verflucht sei ihr Leib, der in der Hölle auferstehen wird, um ewig zu brennen. Verflucht sei die Stunde, die für sie in der Hölle beginnt, und die niemals enden wird. Verflucht seien ihre Augen, mit denen sie das Licht des Himmels gesehen haben. Verflucht seien ihre Ohren, mit denen sie meine Worte hörten, um die sie sich nicht gekümmert haben.
Verflucht sei ihr Geschmack, mit dem sie meine Gaben geschmeckt haben. Verflucht sei ihr Geruch, womit sie die Annehmlichkeiten der Welt gekostet haben, während sie mich vergessen haben, der lieblicher als alles andere ist.

Aber nun kann man fragen: Auf welche Weise sollen sie verflucht werden? Ja, ihre Sehkraft soll verflucht werden, denn sie sollen nicht Gottes Angesicht in mir sehen, sondern das Dunkel und die Pein der Hölle. Ihre Ohren sollen verflucht werden denn sie sollen nicht meine Worte hören, sondern nur die Schreie und den Schrecken der Hölle. Ihr Geschmack soll verflucht werden, denn sie sollen nicht die Freude meiner ewigen Güte, sondern nur das ewige Feuer spüren. Ihr Geruchssinn soll verflucht werden, denn sie sollen nicht den lieblichen Wohlgeruch in meinem Reich vernehmen, der alle Düfte übersteigt, sondern nur den Gestank in der Hölle spüren, der bitterer als Galle und schlimmer ist, als Schwefel.

Sie sollen von Himmel und Erde und von allen unvernünftigen Geschöpfen verflucht werden, denn diese gehorchen Gott und preisen ihn, während sie selbst ihn verachten. Deshalb schwöre ich in meiner Wahrheit (denn ich bin die Wahrheit), dass, wenn sie sterben und in einem solchen Zustand der Sünde sind, wie sie sich jetzt darin befinden, so wird sie niemals meine liebe oder meine Güte umschließen, sondern sie sollen einer Verdammnis ohne Ende anheimfallen.“