55. Kapitel

Ich bin wie ein mächtiger Herr, der eine Stadt erbaute und sie nach sich benannte. Dann baute er in der Stadt ein Schloß, und darin waren viele Räume, die für nützliche Zwecke vorgesehen waren. Nachdem er das Schloß gebaut und all seine Sachen geordnet hatte, teilte er sein Volk in drei Teile und sagte: „Meine Wege führen zu fernen Ländern. Bleibt mir treu und arbeitet mannhaft mir zu Ehren. Ich habe ja für euch das Lebensnotwendige und die Verpflegung geordnet, und ihr habt auch Richter, um zu urteilen, und Verteidiger, euch gegen Feinde zu wehren. Ich habe auch Arbeiter gewählt, die euch beköstigen sollen, mir das Zehnte von meiner Arbeit geben und zu meinem Nutzen und meiner Ehre sparen sollen.“

Nachdem eine Zeitlang verstrichen war, geriet jedoch der Name der Stadt in Vergessenheit. Da sagten die Richter: „Unser Herr ist in ferne Gegenden gereist. Laßt uns daher rechte Urteile fällen und gerecht verfahren, so dass wir nicht getadelt werden, wenn unser Herr zurückkehrt, sondern Ehre und Segen heimbringen.“
Die Verteidiger sagten: „Unser Herr hat sich auf uns verlassen und uns die Verteidigung seines Hauses übertragen. Laßt uns daher auf Überfluß in Speise und Trank verzichten, so dass wir zum Kampfe nicht untauglich werden. Laßt uns auch auf überlangen Schlaf verzichten, so dass wir auf Wacht sein können und nicht überrumpelt werden. Seien wir wohl bewaffnet und ständig wachsam, so dass man uns nicht unvorbereitet findet, wenn Feinde kommen. Von uns hängt nämlich in höchstem Grad die Ehre unseres Herrn und die Erlösung unseres Volkes ab.“

Die Arbeiter sagten: „Groß ist unseres Herrn Ehre, und ehrenvoll ist seine Belohnung. Arbeiten wir daher tapfer und bieten ihm nicht nur den zehnten Teil unserer Arbeit an, sondern alles, was von unserem Lebensunterhalt übrig bleibt. Unser Lohn wird umso ehrenreicher sein, je größer er sieht, dass unsere Liebe ist.“

So verging wieder eine Zeit, und der Herr der Stadt und des Schlosses geriet in Vergessenheit. Da sagten die Richter zueinander: „Unser Herr bleibt lange fort. Wir wissen nicht, ob er zurückkehrt oder nicht. Laßt uns also nach eigenem Gutdünken urteilen und tun, was uns richtig erscheint.“
Die Verteidiger sagten: „Es ist ja dumm von uns, zu arbeiten, wenn wir nicht wissen, welchen Lohn wir erhalten werden. Wir sollten uns besser mit unseren Feinden verbünden und mit ihnen zusammen schlafen und zechen, denn wir kümmern uns nicht darum, wessen Feinde sie gewesen sind.“

Die Arbeiter sagten: „Warum sparen wir unser Gold für einen anderen, wenn wir nicht wissen, wer es nach uns bekommen soll? Es ist besser, dass wir es selbst verwenden und darüber nach unserem Gutdünken verfügen. Wir werden den Richtern den zehnten Teil geben und sie dadurch freundlich stimmen; so können wir dann auch tun, was wir wollen.“
Ich bin in Wahrheit wie dieser mächtige Herr, denn ich habe mir eine Stadt – das ist die Welt – erbaut und ein Schloß darin eingerichtet – das ist die Kirche. Der Name der Welt war göttliche Weisheit, denn die Welt hatte diesen Namen schon von Anfang an, denn sie war in göttlicher Weisheit geschaffen. Dieser Name wurde von allen geehrt, und Gott wurde von seinen geschaffenen Wesen in seiner Weisheit gelobt und wunderbar gepriesen.

Aber jetzt ist der Name der Stadt entehrt und verändert, und ein neuer Name ist aufgekommen: Menschliche Weisheit. Denn die Richter, die vorher in Gerechtigkeit und Gottesfurcht urteilten, die sind nun von Übermut ergriffen und stellen einfältigen Menschen Fallen. Sie möchten redegewandt sein, um das Lob der Menschen zu gewinnen, und sie reden das, was dem Geschmack des Volkes entspricht, damit sie seine Gunst gewinnen.

Sie tragen alle Worte leise vor, damit sie gut und sanftmütig genannt werden; sie nehmen Geschenke entgegen und verfälschen das rechte Urteil. Sie sind weise zu ihrem zeitlichen Nutzen und für ihren eigenen Willen, aber stumm, wenn es gilt, mich zu loben. Sie treten die Einfältigen unter ihre Füße und bringen sie zum Schweigen. Sie dehnen ihre Habsucht auf alle aus und machen das Rechte zum Falschen. Eine solche Weisheit wird nunmehr geliebt, aber meine Weisheit ist vergessen.

Die Verteidiger der Kirche, die Adlige und Ritter sind, sehen meine Feinde und die Angreifer meiner Kirche, kümmern sich aber nicht darum; sie hören ihre Schmähreden, scheren sich aber nicht darum, sie nehmen die Taten derer, die meine Gebote ergreifen, wahr, aber nehmen das geduldig hin. Sie sehen, wie diese täglich alle Todsünden begehen, als wären sie zulässig, aber das macht ihnen nichts aus, sondern schlafen und gehen mit ihnen um, ja sie verbinden sich eidlich mit deren Gesellschaft.

Die Arbeiter, d.h. das ganze Volk, verschmähen meine Gebote und halten die Gaben und den Zehnten, den sie mir darbringen sollten. Sie bieten stattdessen ihren Richtern Geschenke an und erweisen ihnen Verehrung, damit die Richter ihnen wohlwollend und günstig gestimmt werden. Fürwahr, ich kann getrost sagen, dass das Schwert von mir und meiner Kirche auf der Welt verworfen ist, und an seine Stelle der Geldbeutel getreten ist.“