59. Kapitel

Ich bin der, der nie etwas Unwahres gesagt hat. Ich werde auf der Welt wie ein Bauer angesehen, dessen Name verächtlich zu sein scheint. Meine Worte hält man für töricht und mein Haus für einen dürftigen Schuppen. Dieser Bauer hatte eine Frau, die nichts anderes wollte, als das, was mit seinem Willen übereinstimmte, die alles mit ihm teilte, die ihn als ihren Herrn hatte und ihm in allem gehorchte, wie man einem Hausherrn gehorcht.

Der Bauer besaß auch viele Schafe, zu deren Pflege er für 5 Goldmünzen einen Hirten anstellte, um damit den Hirten mit seinem Lebensunterhalt zu versehen. Da dieser Hirte anständig war, verwendete er sein Gold zu seinem Nutzen und zur Nahrung für seinen Lebensunterhalt.

Eine Weile, nachdem dieser Hirte weggegangen war, kam ein anderer und schlechterer. Der kaufte sich eine Hausfrau für das Gold, brachte ihr seine Nahrung, weilte ständig bei ihr und kümmerte sich nicht um die Schafe, die von grausamen Raubtieren kläglich zerstreut wurden. Als der Bauer sah, wie seine Schafe zerstreut wurden, rief er: „Mein Hirte ist mir untreu! Meine Schafe sind von den grausamsten Raubtieren zerstreut; manche sind von den Raubtieren mit Körper und Fell ganz aufgefressen, andere sind getötet, aber ihre Leiber nicht gefressen.“

Da sagte die Frau zu ihrem Mann, dem Bauern: „Mein Herr, es ist ja sicher, dass wir die Körper, die verzehrt sind, nicht wiederbekommen werden, aber die, die nicht angerührt sind, obwohl sie ohne Leben sind, die können wir nach Hause bringen, um sie zu verwerten. Denn wenn wir alles verlieren würden, würde das unerträglich für uns werden.“

Der Mann antwortete ihr: „Aber was sollen wir machen? Die Raubtiere hatten nämlich giftige Zähne, deshalb ist das Fleisch der Schafe ebenso vergiftet, das Fell ist verdorben, und die Wolle verfilzt.“ Die Frau erwiderte: „Wenn alles verdorben und uns alles genommen ist, wovon sollen wir da leben?“ Der Mann antwortete: „Ich sehe an drei Stellen noch lebende Schafe. Manche sind wie tot und wagen aus Furcht nicht zu atmen. Andere liegen in tiefem Schmutz und können sich nicht erheben. Wieder andere liegen in einem Versteck und wagen nicht hervorzukommen. Komm daher, meine Frau, und laß uns die Schafe hochheben, die versuchen aufzustehen, das aber ohne fremde Hilfe nicht fertig bringen, und laß uns sie nützlich verwerten.“

Siehe, ich der Herr bin dieser Bauer, denn von den Menschen werde ich als ein Esel angesehen, der in seinem Stall nach seiner Weise und seinen Sitten aufgezogen wird. Mein Name ist die Einrichtung der heiligen Kirche, aber sie wird nun verächtlich angesehen, denn die Sakramente der Kirche, nämlich die Taufe, Konfirmation, letzte Ölung, Buße und Ehe, werden wie ein Spott empfangen und werden anderen aus Gewinnlust gegeben. Meine Worte werden für töricht gehalten, denn die Worte, die ich mit meinem Munde in Form von Gleichnissen gesprochen habe, die werden nun von geistlichem Verständnis in eine zeitliche Zerstreuung verwendet.

Mein Haus wird als verächtlich angesehen, denn die Menschen lieben die irdischen Dinge statt der himmlischen. Unter diesem ersten Hirten, den ich hatte, verstehen ich meine Freunde, die Priester, die ich früher in der heiligen Kirche hatte, denn mit einem einzigen Wort meine ich mehrere. Denen hatte ich meine Schafe anvertraut, d.h. damit sie meinen hochwürdigen Leib weihen und die Seelen meiner Auserwählten lenken und verteidigen.

Ich gab ihnen auch fünf gute Dinge, kostbarer als alles Geld. Zum ersten Einsicht und Verständnis für alle schwer begreiflichen Dinge, damit sie zwischen Gut und Böse, zwischen Wahrem und Falschem unterscheiden können. Zweitens gab ich ihnen das Verständnis für geistliche Dinge und Weisheit; das ist nun vergessen, und stattdessen wird menschliche Weisheit geliebt. Drittens gab ich ihnen Keuschheit, viertens Mäßigkeit in allen Dingen und Enthaltsamkeit, um den Körper zu zügeln, fünftens Beständigkeit in guten Sitten, Worten und Werken.

Nach diesem erstens Hirten, d.h. meinen Freunden, die früher in meiner Kirche waren, sind nun andere, ungerechte Hirten gekommen, die sich für Gold eine Frau gekauft haben, d.h. anstelle von Keuschheit und dieser fünf guten Dinge haben sie weibliche Körper genommen, nämlich Unmäßigkeit, und deshalb ist mein Geist von ihnen gewichen. Denn wenn sie den festen Willen haben, zu sündigen und ihre Frau zu sättigen, nämlich ihre Wollust zu befriedigen, da ist mein Geist fern von ihnen, da sie sich nicht um den Verlust der Schafe kümmern, damit sie nur ihr böses Verlangen verwirklichen können.

Aber die Schafe, die ganz verzehrt sind, das sind die, deren Seelen in der Hölle sind, und deren Leiber in den Gräbern begraben sind – in Erwartung der Auferstehung zur ewigen Verdammnis. Die Schafe, deren Fleisch noch da ist, aber deren Lebensgeist dahin ist, das sind die, die mich weder lieben noch fürchten oder irgendeine Zuneigung oder Fürsorge für mich empfinden. Von ihnen ist mein Geist weit fort, denn ihr Fleisch ist von den giftigen Zähnen der Raubtiere vergiftet, d.h. ihre Seelen und Gedanken, die durch das Fleisch und die Eingeweide der Schafe symbolisiert werden, sind mir ebenso zuwider und abscheulich zu schmecken, wie vergiftetes Fleisch.

Von ihrem Fell, d.h. ihrem Leib, ist alles Gute und alle Liebe verdorrt, und es ist in meinem Reich zu nichts nütze, sondern wird nach dem Gericht dem ewigen Feuer der Hölle überlassen werden. Ihre Wolle, d.h. ihre Taten, sind so völlig unnütz, dass sich nichts darin findet, dessen sie würdig sind, meine Liebe und Gnade zu besitzen.

Was sollen wir da tun, meine Frau? – Mit der Gattin verstehe ich die guten Christen. – Ich sehe an drei Stellen lebenden Schafe. Manche sind wie tote Schafe und wagen aus Furcht nicht, zu atmen. Das sind die Heiden, die gern den rechten Glauben haben wollten, wenn sie nur wüssten wie, aber die nicht zu atmen wagen, d.h. wegen ihrer Furcht nicht wagen, den Glauben zu verlassen, den sie haben, und den richtigen anzunehmen.

Andere Schafe liegen an versteckten Plätzen und wagen nicht, hervor zu kommen. Das sind die Juden; sie leben wie unter einer Decke und möchten gern herauskommen, wenn sie überzeugt wären, dass ich geboren bin. Sie verbergen sich nämlich unter einer Decke, weil sie auf Erlösung durch die Bilder und Zeichen hoffen, mit denen ich im Gesetz verzeichnet bin, und die in mir vollendet sind, und auf Grund dieses nutzlosen Glaubens fürchten sie, sich dem rechten Glauben zu nähern.

Wieder andere Schafe liegen im Schmutz. Damit sind die Christen gemeint, die im Zustand der Todsünde sind. Aus Furcht vor Strafe würden sie sich gern erheben, aber das können sie wegen ihrer schweren Sünden nicht, und weil sie keine Liebe haben. Hilf mir daher, meine Gattin, d.h. die guten Christen! Denn wie Mann und Frau ein Fleisch und ein Glied sein sollen, so ist der Christ mein Glied und ich das seine, denn ich bin in ihm und er in mir. Deshalb, meine Gattin, d.h. ihr guten Christen, eile mit mir zu den Schafen, die noch einen Lebensgeist haben, so dass wir sie aufrichten und sie erquicken. Hab Mitleid mit mir, denn ich habe sie sehr teuer erkauft. Wollen wir sie aufrichten, du mit mir und ich mir dir, du mit dem Rücken, und ich am Kopf. Froh trage ich sie mit meinen Händen. Einmal trug ich sie alle auf meinem Rücken, als er ganz verwundet und am Stamm des Kreuzes festgenagelt war.

O meine Freunde – so zärtlich liebe ich diese Schafe, dass ich noch einmal, wenn es möglich wäre, für jedes Schaf den Tod erleiden wollte, den ich einst für alle am Kreuz erlitten habe, und sie auf diese Weise lieber erlöste, statt sie zu verlieren. Daher rufe ich von ganzem Herzen zu meiner Freunden, dass sie um meinetwillen keine Güter oder keine Arbeit sparen sollten, und wie mir, als ich auf der Welt war, keine Schmähworte erspart blieben, so mögen sie sich nicht scheuen, die Wahrheit über mich zu sagen.

Ich scheute mich ja auch nicht, den verächtlichen Tod für sie zu sterben. Ich stand nackt, wie ich geboren wurde, vor den Augen meiner Feinde. Sie schlugen mich mit Fäusten auf die Zähne. Sie zerrten mich mit den Fingern an den Haaren. Sie geißelten mich mit ihren Geißeln. Sie schlugen mich mit ihren Werkzeugen ans Holz, und so hing ich zwischen Dieben und Räubern am Kreuz.

Daher sollt ihr, meine Freunde, euch in der Arbeit für mich nicht schonen, der ich so etwas aus Liebe zu euch ausgestanden habe. Arbeitet tüchtig und bringt den Notleidenden Schafen Hilfe. Ich schwöre bei meiner Menschengestalt, die im Vater ist, und der Vater in mir, und bei der Gottheit, die in meinem Geist ist; dass die, die mit mir arbeiten und meine Schafe tragen, denen werde ich auf halbem Weg entgegeneilen, um ihnen zu helfen, und ich werde ihnen die kostbarste Belohnung schenken, nämlich mich selbst zu ewiger Freude.“