10. Kapitel

Es steht im Gesetz Moses geschrieben, dass Mose, als er das Vieh in der Wüste hütete, einen Dornbusch sah, der in Flammen stand, aber nicht vom Feuer verzehrt wurde, wobei er bebte und sein Antlitz verhüllte. Da sagte eine Stimme aus dem Busch zu ihm: „Die Not meines Volkes ist zu meinen Ohren gedrungen, und ich habe Mitleid mit ihnen, denn sie werden durch härteste Knechtschaft bedrückt.“
Ich, der nun mit dir redet, bin die Stimme, die damals aus dem Busch rief. Das Elend meines Volkes ist bis zu meinen Ohren gedrungen. Was war mein Volk, wenn nicht Israel? Unter diesem Volk verstehe ich die Ritter auf der Welt, die sich zu meiner Ritterschaft bekannt haben, und die mir gehören sollten, aber schwer vom Teufel heimgesucht werden.

Aber was hat Pharao mit meinem Volk Israel in Ägypten gemacht? Sicher drei böse Dinge. Erstens, dass sie beim Bau seiner Mauern keine Hilfe von den Strohsammlern erhielten, mit deren Hilfe sie die Ziegelsteine hätten machen können, sondern sie mussten sich selbst Stroh in der Gegend sammeln, wo sie konnten.

Zweitens, dass die Bauarbeiter keinen Lohn für ihre Arbeit erhielten, obwohl sie die vorgeschriebene Anzahl Steine erreicht hatten. Drittens, dass sie von den Aufsehern schwer geplagt wurden, wenn sie die übliche Anzahl nicht beibringen konnten. Dieses mein Volk hat dem Pharao in seiner höchsten Bedrückung zwei Städte gebaut.
Wer ist dieser Pharao, wenn nicht der Teufel, der mein Volk plagt, d.h. die Ritter, die mein Volk sein sollen? Ich sage in Wahrheit, dass – wenn die Ritter in der Ordnung und Einrichtung, die zuerst von meinem Freund begonnen wurde, stehen bleiben würden, so würden sie zu meinen allerliebsten Menschen gehören. Denn so wie Abraham als allererster mein Gebot über die Beschneidung empfing, und nachdem er es befolgt hatte, mein liebster Freund wurde, so werden die, die dem Glauben Abrahams und seinen Taten folgten, meiner Liebe zu ihm und seiner Ehre teilhaftig.

So haben mir unter anderen Ständen die Ritter nur besonders gefallen, weil sie versprochen hatten, mir das zu opfern, was sie am liebsten behalten würden, nämlich ihr Blut. Ja, durch dieses Versprechen haben sie mir in hohem Maße gefallen, so wie Abraham durch die Beschneidung. Und sie wurden täglich durch die Einhaltung ihres Versprechens und durch die Ausübung der heiligen Liebe gereinigt.
Aber jetzt werden diese Ritter vom Teufel in jämmerlicher Knechtschaft gehalten, der ihnen tödliche Wunden zufügt, ja sie in Strafe und Pein versetzt. Auch die Bischöfe der Kirche bauen auf ihn, so wie die Kinder Israels die beiden Städte bauten. Die erste Stadt ist die Mühe des Leibes und die unnötige Anstrengung, weltliche Dinge zu erwerben. Die zweite ist die Unruhe und der aufgeregte Zustand der Sinne – sie gönnen es sich nämlich nie, von weltlichen Begehren auszuruhen. Äußerlich herrscht bei ihnen Mühe, und im Innern Unruhe und Angst, was das Geistliche belastet.

Aber so wie Pharao mein Volk nicht mit dem Notwendigen versah, Ziegelsteine zu machen, und ihnen nicht die Felder gab, auch keinen Wein und andere notwendige Dinge, sondern das Volk musste das mit Schmerzen und betrübten Herzen selbst beschaffen, so verfährt der Teufel jetzt mit ihnen: Obwohl sie für ihn arbeiten und mit ganzem Herzen an der Welt hängen, können sie doch nicht verwirklichen, was sie begehren, und können nicht den Durst ihres Verlangens stillen. Daher brennen sie innerlich vor Schmerz und äußerlich vor Mühsal.
Ich habe deshalb Mitleid mit ihrer Not: Dass meine Ritter und mein Volk für den Teufel Häuser bauen und unaufhörlich arbeiten, dass sie nicht erreichen können, was sie begehren, dass sie sich vor unnötigen Dingen ängstigen und für diese Angst nicht die Frucht des Segens ernten, sondern schändliche Vergeltung.

Als Mose zum Volk gesandt wurde, gab Gott ihm aus dreifacher Ursache ein Zeichen. Erstens verehrte ein jeder in Ägypten seinen besonderen Gott, und die, die Götter genannt wurden, waren unzählige. Daher war es richtig, dass ein Zeichen geschehen sollte, damit man, seit das wunderbare Zeichen und Gottes Macht gezeigt wurde, durch Zeichen an einen einzigen Gott und an einen einzigen Schöpfer aller Dinge glauben sollten, und damit alle Abgötter sich als falsch erweisen sollten.
Zweitens wurde Mose ein Zeichen in einem Bild gegeben, das meinen künftigen Leib darstellen sollte. Denn was bezeichnete der Dornbusch, der brannte, aber nicht verzehrt wurde, anderes, als die vom Heiligen Geist befruchtete und ohne Sünde gebärende Jungfrau? Ich bin gewiss aus diesem Busch hervorgegangen. Ich habe von Marias jungfräulichem Leib Menschengestalt angenommen.

Ebenso bezeichnete die Schlange, die Mose als Zeichen gegeben wurde, meinen Leib. Drittens wurde Mose ein Zeichen gegeben, um die Wahrheit dessen zu bekräftigen, was geschehen sollte, so dass Gottes Wahrheit umso wahrer und sicherer bewiesen würde. Das, was das Zeichen bedeutete, ging zu seiner Zeit ja in Erfüllung.

Aber nun sende ich meine Worte zu den Kindern Israels und zu den Rittern, für die es aus drei Gründen garnicht nötig ist, dass Zeichen geschehen. Erstens dafür, dass man jetzt durch die Heilige Schrift und mannigfache Zeichen einen einzigen Gott verehrt, den Schöpfer aller Dinge. Zweitens dafür, dass sie nicht länger hoffen, dass ich noch geboren werden soll – sie wissen ja doch genau, dass ich geboren bin, dass ich Menschengestalt ohne Sünde angenommen habe, nachdem die ganze Schrift vollendet ist.

Man kann keinen besseren und sichereren Glauben haben als den, der von mir und meinen heiligen Predigern verkündet worden ist. Ich habe aber drei Dinge mit dir gemacht, durch die man dir glauben kann. Erstens, dass meine Worte wahr sind und nicht vom wahren Glauben (der Kirche) abweichen. Zweitens, dass auf mein Wort hin der Teufel von dem besessenen Mann gewichen ist. Drittens, dass ich einem die Macht gab, die entzweiten Herzen zu gegenseitiger Liebe zu bekehren. Daher magst du auch nicht zweifeln, was die betrifft, die an mich glauben werden.

Denn die, die an mich glauben, die glauben auch an meine Worte. Die, für die ich wohlschmeckend bin, die finden auch meine Worte wohlschmeckend. Daher steht geschrieben, dass Mose, als Gott mit ihm redete, sein Antlitz bedeckte. Du sollst dein Antlitz aber nicht bedecken. Ich will dir schließlich das Bild meines Leibes zeigen, so wie es im Leiden und vor dem Leiden war, und wie es nach der Auferstehung war, als Magdalena, Petrus u.a. ihn gesehen haben. Du wirst auch meine Stimme hören, die im Busch zu Mose geredet hat; es ist dieselbe, die jetzt in deiner Seele spricht.“