12. Kapitel

Ich bin der wahre König. Und niemand ist würdig, König genannt zu werden, außer mir, denn von mir stammt alle Ehre und Macht. Ich bin der, der den ersten Engel verdammte, der auf Grund von Übermut, Gewinnsucht und Neid gefallen ist. Ich bin der, der Abel und Kain und die ganze Welt verurteilte, indem ich um der Sünde der Menschen willen die Sintflut schickte. Ich bin der, der das Volk Israel in Gefangenschaft geraten ließ und es mit wunderbaren Zeichen daraus befreite.

In mir ist alle Gerechtigkeit und war und ist es noch, ohne Anfang und Ende, und sie nimmt niemals bei mir ab, sondern bleibt immer wahr und unveränderlich in mir bestehen, und wenn auch meine Gerechtigkeit jetzt in dieser Zeit etwas milder scheint, und Gott in der Ausübung seiner Richtermacht geduldiger, so bedeutet das doch keine Veränderung meiner Gerechtigkeit, denn die ändert sich niemals, sondern eine größere Manifestation meiner Liebe.
Mit derselben Gerechtigkeit und derselben Wahrheit im Urteil richte ich nun die Welt, wie damals, als ich mein Volk den Ägyptern dienen ließ und ihnen Plagen in der Wüste schickte. Aber bevor ich Menschengestalt annahm, war die Liebe, die ich in meiner Gerechtigkeit hatte, verborgen wie ein Licht, das von einer Wolke verdeckt oder überschattet ist.

Als ich Menschengestalt angenommen hatte, wurde das einst gegebene Gesetz gewiss verändert, aber die Gerechtigkeit änderte sich doch nicht, sondern zeigte sich deutlicher, ja sie trat in hellerem Licht in der Liebe durch Gottes Sohn hervor, und dies auf dreifache Weise. Erstens wurde ja das Gesetz gemildert, das für die ungehorsamen und verhärteten Menschen hart und schwer für die hochmütigen war, die gedemütigt werden mussten. Für das andere litt und starb ja Gottes Sohn.

Drittens scheint sich das Gericht sozusagen jetzt länger als vorher durch die Barmherzigkeit hinauszuziehen und milder gegen die Sünder zu sein. Es schien ja sehr hart und streng für die ersten Voreltern zu sein, gegen die, die in der Sintflut umkamen, und gegen die, die in der Wüste starben. Dieselbe Gerechtigkeit ist nun bei mir und war es schon von Ewigkeit her, aber jetzt tritt mehr die Barmherzigkeit und Liebe zutage, die damals klug in Gerechtigkeit verborgen war und sich barmherzig zeigte, wenn auch mehr verhüllt, denn ich habe nie, und tue es auch jetzt nicht, Gerechtigkeit ohne Barmherzigkeit oder Milde ohne Gerechtigkeit geübt.

Aber nun kannst du fragen: Wenn ich Barmherzigkeit bei aller Gerechtigkeit habe, wie zeigt sich dann meine Barmherzigkeit gegenüber den Verdammten? Ich antworte dir mit einem Gleichnis. Stell dir vor, dass ein Richter zu Gericht sitzt, und sein Bruder dorthin kommt, um verurteilt zu werden. Der Richter sagt zu ihm: „Du bist mein Bruder und ich dein Richter, und wenn ich dich auch innig liebe, kann ich doch nicht gegen die Gerechtigkeit verstoßen, und das wäre auch unpassend. Du siehst in deinem Gewissen die ganze Gerechtigkeit nach deinen Verdiensten, und danach müsstest du verurteilt werden. Wenn es möglich wäre, gegen die Gerechtigkeit zu handeln, würde ich gern die festgesetzte Strafe für dich leiden.“

Ich bin so, wie dieser Richter. Der Mensch ist durch seine Menschengestalt mein Bruder. Wenn er zu meinem Gericht kommt, sagt ihm sein Gewissen seine Schuld an, und er versteht auch, was für eine Schuld es ist, für die er verurteilt wird. Aber weil ich gerecht bin, antworte ich der Seele in einem Gleichnis und sage zu ihr: „Du siehst in deinem Gewissen alle Gerechtigkeit; sag also, was du verdienst!
Da antwortet die Seele mir: „Mein Gewissen sagt mir mein Urteil, und das ist die gerechte Strafe, die ich verdient habe, weil ich dir nicht gehorcht habe.“ Da antworte ich der Seele: „Ich, dein Richter, habe um deinetwillen alle Pein auf mich genommen, ich habe dich auf deine Gefahr und ebenso auf den Weg hingewiesen, den du gehen solltest, um der Pein zu entgegen. Es war nämlich gerecht, dass du, ehe die Schuld gesühnt ist, nicht in den Himmel gelangen sollst, und deshalb habe ich es auf mich genommen, sie für dich zu sühnen, denn du selbst warst nicht in der Lage, zu leiden.

Durch die Propheten habe ich dir gezeigt, was mir geschehen würde, und nicht der kleinste Punkt von dem, was die Propheten vorausgesagt hatten, blieb unerfüllt. Ich habe dir alle Liebe gezeigt, die ich konnte, damit du dich an mich wenden solltest. Aber nachdem du dich von mir abgewandt hast, hast du nun eine gerechte Behandlung verdient, denn du hast die Barmherzigkeit verachtet. Ich bin aber doch noch so barmherzig, dass ich – wenn es mir möglich wäre, noch einmal zu sterben, so würde ich lieber für dich noch einmal dieselbe Pein erdulden, die ich einmal am Kreuz erlitt, als dich von einer solchen Gerechtigkeit verurteilt zu sehen.

Die Gerechtigkeit sagt jedoch, es sei unmöglich, dass ich noch einmal sterbe. Die Barmherzigkeit sagt, wenn es möglich wäre, würde ich gerne für dich sterben. Sieh, wie barmherzig ich sogar mit den Verdammten bin, und wie liebevoll! Alles, was ich tue, das tue ich ja, um meine Liebe zu zeigen. Von Anfang an habe ich den Menschen geliebt, auch wenn es so aussah, dass ich erzürnt war, aber niemand kümmert sich um meine Liebe oder achtet auf sie.

Weil ich gerecht und barmherzig bin, ermahne ich also die, die Ritter genannt werden, dass sie meine Barmherzigkeit suchen, so dass sie nicht von meiner Gerechtigkeit getroffen werden, die beständig und unerschütterlich wie ein Berg ist, brennend wie ein Feuer, gefährlich wie ein Donner und plötzlich wie ein Bogen ist, der gespannt ist, um einen Pfeil abzuschießen.

Ich ermahne sie auf dreifache Weise: Erstens wie ein Vater seine Kinder, dass sie sich zu mir bekehren sollen, weil ich ihr Vater und ihr Schöpfer bin; dass sie zu mir zurückkehren, so dass ich ihnen das väterliche Erbe gebe, das ihnen durch Erbrecht zusteht, dass sich bekehren sollen. Denn wenn ich auch verachtet bin, werde ich sie doch mit Freude empfangen und ihnen mit meiner Liebe entgegeneilen.

Zweitens bitte ich sie wie ein Bruder, dass sie sich an meine Wunden und meine Taten erinnern, dass sie sich bekehren sollen; dann werde ich sie ein Bruder aufnehmen. Drittens bitte ich wie ein Herr, dass sie zu ihrem Herrn zurückkehren, dem sie ihr Vertrauen geschenkt haben, dem sie dienen sollen, und dem sie sich mit einem Eid verbunden haben.

Also, ihr Ritter, kehrt zu mir, eurem Vater, zurück, der euch mit Liebe aufgezogen hat. Schaut mich an, euren Bruder, der euch um euretwillen gleichgeworden ist. Bekehrt euch zu mir, eurem gutten Herrn. Es ist ja eine große Schande, einem anderen Herrn seine Treue und seine Dienste zu schenken. Ihr habt mir das Versprechen gegeben, dass ihr meine Kirche verteidigen und den Unglücklichen helfen werdet, und seht – nun stellt ihr euch in den Dienst meines Feindes! Ihr holt sogar mein Banner nieder und zieht das Banner eines Feindes auf.

Also, ihr Ritter, kehrt mit aufrichtiger Demut zu mir zurück, die ihr im Übermut von mir abgewichen seid! Wenn es euch schwer scheint, etwas für mich zu leiden, so betrachtet, was ich für euch getan habe! Um euretwillen ging ich auf blutenden Füßen zum Kreuz, für euch hatte ich Hände und Füße durchbohrt; für euch habe ich keines meiner Glieder geschont, und doch vergesst ihr das alles und geht fort von mir. Kehrt also zurück, so werde ich euch drei Dinge zu Hilfe geben.
Erstens – Stärke gegen körperliche und geistliche Feinde. Zweitens Mannesmut, so dass ihr nichts fürchtet außer mir, und es für angenehm halten, für mich zu arbeiten. Drittens werde ich euch Weisheit schenken, mit der ihr den wahren Glauben und Gottes Willen verstehen sollt. Kehrt also zurück, und steht mannhaft fest.

Ich, der euch ermahne, bin ja der, dem die Engel dienen, der eure gehorsamen Väter befreite, der die Ungehorsamen verdammt und die Hochmütigen gedemütigt hat. Ich war der erste im Krieg, der erste im Leiden. Folgt mir also nach, so dass ihr nicht wie Wachs im Feuer aufgelöst werdet. Warum habt ihr euer Gelübde für nichts abgelegt? Warum verachtet ihr den Eid? Bin ich geringer und wertloser als eure irdischen Freunde, denen ihr die Treue haltet, die ihr ihnen versprochen habt?

Aber was mich betrifft, den Spender des Lebens und der Ehre und den Bewahrer der Gesundheit, haltet ihr nicht das Gelübde, das ihr mir gegeben habt. Daher, ihr guten Ritter, führt euer Versprechen aus, und wenn ihr das mit der Tat nicht könnt, so versucht es zumindesten mit dem Willen – dann will ich aus Mitleid mit der Knechtschaft, in der euch der Teufel hält, euren Willen für die Tat nehmen. Wenn ihr mit Liebe zu mir zurückkehrt, so arbeitet für den Glauben meiner Kirche, und ich werde euch mit meiner ganzen Heerschar wie ein guter Vater entgegeneilen.

Ich werde euch zur Belohnung fünf gute Dinge schenken. Erstens soll die ewige Ehre nie aus eurer Hörweite weichen. Zweitens soll Gottes Angesicht und Ehre nie aus eurem Blickfeld weichen. Drittens soll Gottes Lob nie aus eurem Mund verstummen. Viertens soll eure Seele alles haben, was sie wünscht, und niemals etwas anderes wünschen als das, was sie besitzt. Fünftens sollt ihr nie von eurem Gott getrennt werden, sondern eure Freude soll ohne Ende währen, und euer Leben soll ohne Ende in Freude leben.

Seht, ihr Ritter, so soll die Belohnung aussehen, wenn ihr meinen Glauben verteidigt und mehr für meine Ehre als für eure eigene arbeitet. Erinnert euch, wenn ihr Verstand habt, dass ich Geduld mit euch habe, und dass ihr mir eine solche Schmach zufügt, wie ihr sie selbst von einander nicht ertragen wolltet.

Aber obwohl ich alles durch meine Macht vermag, und wenn auch die Gerechtigkeit nach Rache über euch ruft, soll euch doch meine Barmherzigkeit, die in Weisheit und Güte besteht, noch schmerzen. Sucht deshalb die Barmherzigkeit, denn ich beschere das aus Liebe, worum ich demütig bitten sollte.“