15. Kapitel

Du möchtest wissen, warum ich so spreche, und warum ich dir so bedeutsame Dinge gezeigt habe. Meinst du, ich habe das für dich allein getan? Nein, gewiss nicht, sondern zur Unterweisung und Erlösung anderer, denn die Welt war so wie eine Einöde, wo es nur einen einzigen Weg gab, und der führte in den tiefsten Abgrund.

Aber in dem Abgrund gab es zwei Räume. Der eine war so tief, dass er gar keinen Boden unter sich hatte, und die, die dort hineinkamen, sind nie wieder herausgekommen. Der andere war nicht so tief wie der erste und nicht ebenso schrecklich, und die, die dort hineinkamen, hatten Hoffnung, Hilfe zu erhalten; sie hatten eine Sehnsucht und ein Langdauerndes Verlangen, aber kein Elend; sie spürten wohl das Dunkel, aber keine Qual.
Die, die in diesem zweiten Raum wohnten, riefen täglich zu einer herrlichen, naheliegenden Stadt, die voll von allem Guten und allen Vergnügungen war. Sie riefen laut, denn sie kannten den Weg, den sie in die Stadt gehen würden, aber der öde Wald war so dicht und eng verwachsen, dass sie deshalb nicht imstande waren, ihn zu durchdringen und auch nicht die Kraft hatten, sich einen Weg zu bahnen.

Und was riefen sie? Gewiss, sie riefen so: „O Gott, komm und hilf, zeige den Weg und gib uns Licht, denn wir harren auf dich. Bei keinem anderen gibt es für uns Erlösung, als bei dir.“ Dieser Ruf drang auf zum Himmel und an meine Ohren und rührte mich zur Barmherzigkeit. Ich wurde von so einem brennenden Ruf bewogen und begab mich als Pilger hinaus in die Einöde.

Aber bevor ich meine Fahrt und meine Arbeit begann, erscholl eine Stimme vor mir und sagte: „Die Axt ist schon an den Baum gelegt.“ Diese Stimme kam von Johannes dem Täufer, der vor mir in die Wüste gesandt wurde, und der jetzt rief: „Die Axt ist schon an den Baum gelegt“ – als ob er sagen wollte: „Jetzt soll der Mensch bereit sein, denn die Axt ist jetzt bereit, und der ist gekommen, der sozusagen den Weg in die Stadt bereiten und alle Hindernisse beseitigen soll.
Aber als ich kam, arbeitete ich von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, denn seitdem ich Menschengestalt annahm und bis zum Tode am Kreuz bewirkte ich die Erlösung des Menschen. Schon am Anfang meines Eintritts in diese Einöde musste ich vor meinen feinden fliehen, nämlich vor dem Verfolger Herodes; dann wurde ich vom Teufel versucht und litt Verfolgungen durch die Menschen. Dann stand ich mannigfache Mühen aus, aß und trank und erfüllte ohne Sünde andere Erfordernisse – zur Stärkung des Glaubens und zum Beweis dafür, dass ich wahre Menschennatur angenommen habe.

Als ich dann den Weg in die Stadt bahnte, nämlich zum Himmel, und das hinderliche Gestrüpp wegräumte, stachen mich die spitzesten Dornen in die Seite, schreckliche Nägel verletzten meine Hände und Füße, und meine Zähne und Wangen wurden böse geschlagen. Aber ich ertrug es geduldig und wich nicht zurück, sondern drängte nur umso eifriger vor, wie wenn ein vom Hunger bedrängtes Tier einen Pfeil gegen sich gerichtet sieht und sich nur aus Hunger auf einen Menschen und den Speer stürzt. Und je tiefer der Mensch den Speer in die Eingeweide des Tiers bohrt, desto heftiger stürzt es sich selber gegen den Speer (nur aus Sehnsucht nach einem Menschen), bis seine Eingeweide und der ganze Körper durchbohrt sind. So brannte ich vor so großer Liebe zu den Seelen, dass ich, als ich all die bitteren und schrecklichen Qualen sah und spürte, doch umso mehr brannte, als der Mensch willens war, mich zu töten, und hatte umso größeren Eifer, das Leiden zur Erlösung der Seelen zu erdulden. So ging ich also in der Wüste dieser Welt unter Mühsal und Elend weiter und bereitete den Weg mit meinem Blut und meinem Schweiß.

Ja, die Welt kann wirklich eine Wüste genannt werden, denn jede Tugend ist darin verdorrt, so dass nur eine Einöde von Lastern übrig blieb, in der es nur einen einzigen Weg gab und dazu ein Weg, auf dem alle hinab ins Reich des Todes geführt wurden, die Verdammten zur Verdammnis, aber die Guten nur ins Dunkel. Ich hörte also barmherzig ihre lange Sehnsucht nach der kommenden Erlösung und kam wie ein Pilger, um zu arbeiten. Unerkannt in meiner Macht und Gottheit habe ich den Weg bereitet, der zum Himmel führt.
Meine Freunde, die diesen Weg sahen und die Schwierigkeiten meiner Arbeit und die Freude meiner Seele sahen, freuten sich und folgten mir in großer Zahl und lange Zeit. Aber nun ist die Stimme verwandelt, die rief: „Seid bereit!“ Mein Weg ist anders geworden; Unkraut und Dornen sind wieder gewachsen, und man hat aufgehört, darauf zu gehen.

Der Weg zur Hölle ist dagegen offen und breit, und die meisten gehen ihn. Doch mein Weg ist noch nicht ganz vergessen, denn meine wenigen Freunde gehen aus Sehnsucht nach dem himmlischen Vaterland auf ihm, indem sie wie Vögel von einem Busch zum anderen fliegen, und sie dienen mir heimlich und mit Furcht, denn auf dem Weg der Welt zu gehen, scheint für alle Lust und Freude zu sein.
Weil mein Weg so schmal und der Weg der Welt breit geworden ist, rufe ich also in der Wüste, d.h. der Welt, zu meinen Freunden, dass sie die Dornen und Disteln auf dem Weg entfernen, der zum Himmel führt, und den Weg für die freimachen, die ihn wandern wollen. Denn wie geschrieben steht: „Selig sind die, die mich nicht gesehen haben, und mir doch geglaubt haben, so sind die selig, die jetzt meinen Worten glauben und sie mit ihrem Tun vollenden.

Ich bin gewiss wie eine Mutter, die ihrem verirrten Sohn entgegeneilt, ihm ein Licht zeigt, so dass er den Weg sehen kann, die ihn liebevoll auf dem Weg begegnet und ihn für ihn verkürzt, die ihn umarmt und sich freut. So will ich meinen Freunden und allen, die zu mir zurückkehren, liebevoll entgegeneilen und ihr Herz und ihre Seelen zu göttlicher Weisheit erleuchten. Ich will sie mit allen Ehren umarmen und sie in den himmlischen Hof führen, der keinen Himmel über sich und keine Erde unter sich hat. Dort gibt es nur das Schauen Gottes, keine Speise und Trank, sondern göttliche Freude. Aber den Bösen wird der Weg zur Hölle überlassen; dort sollen sie eintreten, um nie wieder herauszukommen; sie werden keine Ehre und Freude mehr haben und mit ewiger Not und Schmach erfüllt werden.
Daher spreche ich diese Worte und zeige meine Liebe, damit die, die sich verirrt haben, zu mir zurückkehren und mich kennenlernen – ihren Schöpfer, den sie vergessen haben.“