22. Kapitel

Maria sagte: „Es steht geschrieben, dass der, der weise sein will, Weisheit von einem Weisen lernen sollte.“ Daher sage ich dir in einem Gleichnis: Einer, der Weisheit lernen wollte, sah zwei Meister vor sich stehen, und er sagte zu ihnen: „Gern will ich Weisheit lernen, wenn ich nur wüsste, wohin sie mich führt, und welchen Nutzen und welches Ziel sie hat.“ Der eine Lehrer antwortete: „Wenn du meiner Weisheit folgen willst, wird sie dich auf den höchsten Berg führen, aber auf dem Wege wirst du harte Steine unter den Füßen spüren, und schwer und steil wird es beim Aufstieg werden.

Wenn du nach dieser Weisheit strebst, wirst du das gewinnen, was nach außen dunkel, aber inwendig strahlend klar ist. Wenn du sie festhältst, wirst du haben, was du willst. Sie läuft um dich herum wie ein Zirkel und zieht dich mehr und mehr, immer schöner und liebevoller zu sich, bis du eines Tages von allen Seiten von Freude durchflutet wirst.“
Der andere Meister sagte: „Wenn du meiner Weisheit folgst, wird sie dich in ein blühendes Tal hinabführen, reich an allen Früchten der Erde. Auf dem Wege ist es weich unter den Füßen, und wenig Mühe ist es beim Niedersteigen. Wenn du in dieser Weisheit beharrst, wirst du das besitzen, was nicht dauert, sondern bald ein Ende hat, und wenn das Buch zu Ende gelesen ist, wird sowohl das Buch wie auch das Gelesene zunichte werden, und du wirst leer zurückgelassen.“

Als er das hörte, dachte er: „Ich höre hier zwei seltsame Dinge. Wenn ich den Berg hinaufsteige, werden meine Füße müde und mein Rücken schwer. Wenn ich das gewinne, was nach außen dunkel ist – was soll mir das nützen? Und wenn ich nach etwas strebe, was kein Ende hat, wann soll ich da Erquickung finden? Der zweite Meister verspricht das, was äußerlich strahlend klar, aber nicht von Dauer ist, und sagt, dass die Weisheit mit dem Lesen ein Ende nimmt. Was habe ich für Nutzen davon, was nicht von Dauer ist?“

Als er so in seiner Seele überlegte, erschien plötzlich ein dritter Mann zwischen den beiden Meistern, und der sagte: „Wenn der Berg auch hoch und schwer zu besteigen ist, so gibt es doch eine lichte Wolke über dem Berge, und von der wirst du Kühlung empfangen. Wenn das, was man dir versprochen hat, nach außen dunkel ist, so kann das doch beseitigt werden, und dann wirst du das Gold gewinnen, das innen darin verborgen liegt und es mit ewiger Freude besitzen.
Diese beiden Meister bedeuten zwei Arten von Weisheit, nämlich die geistliche und fleischliche. Die geistliche besteht darin, den eigenen Willen Gott zu überantworten und mit ihrem ganzen Verlangen und ihrem Tun nach der himmlischen zu trachten. Man kann nämlich nicht von wirklicher Weisheit sprechen, wenn nicht die Tat mit den Worten übereinstimmt.

Diese Weisheit führt zum seligen Leben. Aber diese Weisheit ist ein steiniger Weg beim Vorwärtsschreiten und steil beim Aufstieg. Es scheint nämlich hart und „steinig“, seinen Begierden zu widerstehen, und es ist schwer, auf gewohnte Genüsse zu verzichten und nicht die Ehrung der Welt zu lieben. Aber obwohl das so schwer ist, soll doch ein jeder bedenken, dass die Zeit kurz und die Welt vergänglich ist. Und wer sein Verlangen stets auf Gott richtet, darf die Wolke über dem Berg sehen, nämlich den Trost des Heiligen Geistes.

Wer keinen anderen Tröster sucht als Gott, wird dieses Trostes würdig sein. Wie hätten alle Auserwählten Gottes sonst so schwere und bittere Dinge begonnen, wenn nicht Gottes Geist mit dem guten Willen des Menschen wie mit einem guten Werkzeug zusammengearbeitet hätte?
Der gute Wille führte diesen Geist zu ihnen; die göttliche Liebe, die sie zu Gott hatten, hat ihn eingeladen, denn sie arbeiteten mit ihrem Willen und Begehren, bis sie stark an Taten wurden. Aber als sie den Trost des Geistes gewonnen hatten, erhielten sie auch gleich das Gold der göttlichen Freude und Liebe, womit sie nicht nur viele Widerstände ertrugen, sondern sich auch freuten, sie zu ertragen – mit dem Gedanken an Belohnung.

Diese Freude scheint den Liebhabern der Welt dunkel, denn diese lieben das Dunkel, aber für die, die Gott lieben, ist sie heller als die Sonne und strahlend klarer als das Gold. Denn sie durchdringen das Dunkel der Sünden und steigen auf zum Berge der Geduld, wobei sie die Wolke des Trostes betrachten, die kein Ende nehmen wird, sondern die in dieser Welt beginnt und wie ein Zirkel umläuft, bis sie zur Vollendung kommt.
Die Weisheit der Welt dagegen führt ins Tal des Elends, das durch seinen Reichtum an Dingen blühend erscheint, schön durch die Ehre, die es bietet, weich durch seine Wollust. Diese Weisheit nimmt schnell ein Ende und hat keinen anderen Nutzen außer dem Wenigen, das man vorübergehend sah und hörte.

Also, meine Tochter, suche Weisheit bei dem Weisen, d.h. bei meinem Sohn. Er ist gewiß die Weisheit, von der alle Weisheit stammt, und der Zirkel, der nie endet. Ich rufe zu dir wie eine Mutter zu ihrem Sohn: Habe die Weisheit lieb, die inwendig wie Gold und nach außen verächtlich ist; inwendig glühend vor Liebe, aber nach außen hin mühsam und doch fruchtbar an Taten ist, und wenn du über deine Bürde betrübt bist, wird Gottes Geist dein Tröster sein.

Geh deshalb voran und streng dich an – wie der Mann, der weitermacht, bis er sich an die Arbeit gewöhnt hat, und gehe nicht zurück, bis du die Spitze des Berges erreicht hast. Nichts ist nämlich so schwer, dass es nicht durch eine stetige und vernünftige Fortsetzung leicht wird, und nichts ist beim Beginn eines Unternehmens so ehrenwert, dass es nicht durch die Unvollkommenheit des Abschlusses verdunkelt würde.
Schreite also zu der geistlichen Weisheit voran; sie wird dich zu körperlichen Mühen, zu Weltverachtung, vorübergehender Trübsal und ewigem Trost hinführen. Die Weisheit der Welt dagegen ist trügerisch und stechend; sie führt dich nur zum Sammeln zeitlicher Dinge und zur Ehre im jetzigen Leben, aber zuletzt zu äußerstem Elend, wenn man sich nicht genau in Acht nimmt und sich vorsieht.“