Maria sagte: „Dies ist eine merkwürdige Sache, dass der Herr aller Dinge und der König der Ehren verachtet ist. Er war wie ein Pilger auf Erden, indem er von Ort zu Ort ging und wie ein Wanderer an die Tür vieler Menschen klopfte, um aufgenommen zu werden. Die Welt war nämlich wie ein Landgut, wo es fünf Häuser gab. Als mein Sohn in seiner Pilgertracht zu dem ersten Hause kam, klopfte er an die Tür und sagte: „Mein Freund, öffne mir und laß mich eintreten und bei dir rasten, so dass mir nicht unversehens wilde Tiere schaden oder Regenschauer über mich kommen.
Gib mir von deinen Kleidern, womit ich mich wärmen kann, denn ich friere, und womit ich mich bedecken kann, denn ich bin nackt. Gib mir von deinem Essen, womit ich mich ernähren kann, denn ich bin hungrig. Gib mir von deinem Trank, womit ich mich erquicken kann, denn ich bin durstig. Wenn du das tust, wirst du Lohn von deinem Gott erhalten.“
Da antwortete der, der im Haus war: „Du bist sehr ungeduldig, deshalb kannst du dich nicht anpassen und bei uns wohnen. Du bist sehr groß gewachsen, daher können wir dich auch nicht kleiden. Du bist sehr gierig, deshalb sind wir nicht in der Lage, dich satt zu machen, denn deine Gier ist bodenlos.“
Der Pilger Christus, der draußen war, ergriff das Wort von neuem: „Mein Freund, laß mich doch froh und freiwillig ein, denn ich kann mit einem kleinen Platz auskommen. Gib mir von deinen Kleidern etwas ab, denn es gibt in deinem Haus kein Kleidungsstück, das so klein ist, dass es nicht reichen würde, mich zu wärmen. Gib mir etwas von deinem Essen ab, denn ich kann nur von einem Krümel satt werden, und ein Tropfen Wasser kann mir Kühlung und Kraft geben.“
Der Mann, der drinnen war, erwiderte von neuem: „Wir kennen dich sehr gut – du bist demütig mit Worten, aber hartnäckig im Bitten. Du Scheinst bescheiden und leicht zu erfreuen zu sein, aber bist doch unmäßig und nicht zufrieden zu stellen. Du bist so verfroren, dass es äußerst schwer ist, dich zu kleiden. Geh deines Weges, ich kann dich nicht aufnehmen.“
Da ging der Herr zum zweiten Haus und sagte: „Mein Freund, mach auf und sieh mich an. Ich will dir geben, was du brauchst. Ich werde dich gegen deine Feinde verteidigen.“ Der Mann im Hause sagte: „Meine Augen sind krank, und es würde ihnen schaden, wenn ich dich ansehen würde. Ich habe Überfluß an allem und brauche das nicht, was du anbietest. Ich bin mächtig und stark; wer sollte mir da schaden können?“
Da kam er zum dritten Haus und sagte: „Mein Freund, öffne deine Ohren und höre auf mich. Streck deine Hände aus und faß mich an. Öffne deinen Mund und koste mich.“ Der Hausbesitzer antwortete: Ruf lauter, damit ich dich gut hören kann. Wenn du mild und sanft bist, will ich dich zu mir nehmen.“
Dann ging der Herr zum vierten Haus, dessen Tür etwa bis zur Hälfte offenstand, und sagte: „Mein Freund, wenn du einsehen würdest, wie nutzlos du deine Zeit verbrauchst, denn würdest du mich zu dir eintreten lassen. Wenn du verstehen und hören würdest, was ich für dich getan habe, würdest du Mitleid mit mir empfinden. Wenn du darauf achten würdest, wie sehr du mich gekränkt hast, würdest du weinen und um Vergebung bitten.“
Der im Hause war, sagte: „Wir sind gleichsam tot vor Erwartung und Sehnsucht nach dir; hab deshalb Mitleid mit unserem Elend, so werden wir uns gern dir schenken. Sieh auf unsere Not und betrachte die Drangsal unseres Leibes, dann werden wir bereit zu allem sein, was du willst.“
So kam der Herr zum fünften Haus, das ganz und gar offen stand, und sagte: „Mein Freund, hier möchte ich gern eintreten. Aber du sollst wissen, dass ich ein weicheres Bett begehre, als Daunenpolster es zu bieten pflegen, eine größere Wärme, als Wolle geben kann eine frischere Kost, als frisches Fleisch von Tieren es bieten kann.“
Die Leute, die drinnen waren, sagten: „Der Hammer liegt an unseren Füßen; mit dem wollen wir gern unsere Füße und Beine kaputt schlagen und dir das Knochenmark geben, das daraus hervorquillt, um darauf zu ruhen, unsere Eingeweide und all unser Inneres wollen wir dir gern offen lassen: Tritt auch dort ein! Denn so wie nichts weicher für dich ist, um auszuruhen, als unser Mark, so gibt es nichts, was dir eine bessere Wärme bieten kann, als unsere Eingeweide. Unser Herz ist frischer als das Fleisch von Tieren, und wir wollen es gern für dich zerschneiden, wenn du nur bei uns eintrittst, denn du bist lieblich zu schmecken und herrlich zu genießen.“
Die Bewohner in den fünf Häusern bezeichnen fünf menschliche Stände auf der Welt. Die ersten sind die treulosen Christen, die sagen, dass die Gerichte meines Sohnes ungerecht sind, seine Verheißungen falsch und seine Gebote unmöglich zu halten sind. Diese Leute sagen gotteslästerlich in ihrem Denken und in ihrem Verstand zu den Predigern meines Sohnes: „Allmächtig oder nicht – er ist am allerlängsten, und deshalb ist er unerreichbar. Er ist am allerweitesten und höchsten, und deshalb kann man ihn nicht ermessen. Er ist am ungeduldigsten, und deshalb kann man nicht mit ihm wohnen.“
Sie sagen, er sei am längsten, weil sie faul in der Arbeit und in der Liebe sind und nicht versuchen, seiner Güte nahe zu kommen. Sie sagen, er sei am weitesten, da ihre Gier kein Maß kennt. Sie schützen immer einen Mangel vor und ahnen Böses, bevor es kommt. Sie tadeln ihn als unersättlich, nachdem Himmel und erde nicht bis zu ihm reichen, abgesehen davon, dass er die besten Gaben vom Menschen begehrt und fordert, dass man alles für die Seele geben soll, was sie für den törichtesten Befehl halten, und dass man weniger für den Körper tun soll, was sie für ein großes Verderben halten.
Sie sagen auch von ihm, dass er am ungeduldigsten sei, da er die Sünder haßt und ihnen Dinge schickt, die gegen ihren Willen sind. Sie sehen nur das als schön und nützlich an, wozu die körperliche Lust sie leitet.
Nun ist mein Sohn in Wahrheit allmächtig im Himmel und auf Erden, der Schöpfer aller Dinge und von niemandem geschaffen; er war vor allen da, und nach ihm wird niemand kommen. Er ist gewiß am längsten, höchsten und weitesten; innen, außen und über alles. Aber obwohl er so mächtig ist, will er doch in seiner Liebe mit dem Dienst des Menschen bekleidet werden – er, der keinen Bedarf an Kleidern hat, da er selber alles bekleidet und selber ewig und unveränderlich mit einiger Ehre und Würde bekleidet ist.
Er sehnt sich danach, mit der Liebe des Menschen gesättigt zu werden – er, der doch das Brot der Engel und Menschen ist, das alle erquickt und von keinem etwas braucht. Er begehrt vom Menschen Frieden, er, der Schöpfer und Erneuerer des Friedens ist. Daher kann ihn jeder, der ihn mit frohem Sinn empfangen will, sogar mit einem Brotkrumen sättigen, wenn er gutwillig ist, ihn sogar mit einem bloßen Faden bekleiden, wenn seine Liebe brennend ist, seinen Durst sogar mit einem Tropfen löschen, wenn sein Wohlwollen richtig ist, und ihn in sein Herz aufnehmen und mit ihm reden, wenn seine Frömmigkeit warm und standhaft ist.
Gott ist nämlich Geist, und deshalb will er, dass fleischliche Dinge in geistliche und vergängliche Dinge in ewige verwandelt werden, dass ihm gegenüber das getan und gezeigt wird, das man seinen Gliedern (den Gläubigen) zeigt. Und er achtet nicht nur auf das Werk oder die Fähigkeit des Menschen, sondern auf seinen eifrigen Willen, und in welcher Absicht eine Tat getan wird.
Aber je mehr mein Sohn sie durch heimliche Eingebungen ruft, je mehr er sie durch seine Prediger ermahnt, desto mehr verhärten sie ihre Sinne gegen ihn. Sie hören ihn nicht, sie öffnen ihm nicht gutwillig die Tür und lassen ihn nicht durch Taten der Liebe Eintreten. Deshalb wird, wenn ihre Zeit kommt, die falsche Hoffnung, mit der sie sich vertrösten, zunichte werden, die Wahrheit wird erhöht und Gottes Ehre offenbart werden.
Die zweiten sind die verhärteten Juden. Sie halten sich selbst in allen Dingen verständig und halten ihre Weisheit für Gerechtigkeit. Sie prahlen mit ihren Taten und halten sie für ehrenwerter, als die von anderen. Wenn sie die Taten meines Sohnes hören, halten sie diese für verächtlich, wenn sie seine Worte und Gebote hören, verachten sie sie. Sie halten sich für sündig und befleckt, wenn sie etwas sehen oder hören, was meinem Sohn gehört, und sie noch unglücklicher und elender, wenn sie seine taten befolgen würden. Aber so lange die Welt ihnen gewogen ist, halten sie sich für höchst glücklich, und solange sie frische Kräfte haben, halten sie sich am stärksten. Daher soll ihre Hoffnung zunicht und ihre ehre zuschanden werden.
Die dritten sind die Heiden. Manche von ihnen rufen täglich höhnisch: „Wer ist dieser Christus? Wenn er so gütig ist, zeitliche Dinge zu schenken, werden wir ihn gern annehmen. Wenn er so milde ist, Sünden zu erlassen, wollen wir ihn gern verehren.“
Aber sie haben die Augen ihres Verstandes geschlossen, so dass sie Gottes Gerechtigkeit und Barmherzigkeit nicht verstehen können. Sie halten sich die Ohren zu, so dass sie nicht hören können, was mein Sohn für sie und für alle getan hat. Sie verschließen ihren Mund und fragen nicht danach, was ihnen geschehen wird, und was ihnen nützt. Sie verschließen ihre Hände und weigern sich, danach zu streben und zu forschen, auf welche Weise sie der Lüge entfliehen und die Wahrheit finden können. Nachdem sie nichts verstehen und sich in Acht nehmen wollen, während sie es doch können und die Zeit dazu haben, werden sie mit ihren Häusern fallen und vom Sturm weggefegt werden.
Die vierten sind die Juden und Heiden, die gerne Christen sein wollten, wenn sie nur wüssten, was meinem Sohn wohlgefällig sein würde, und wenn sie irgendein Helfer hätten. Sie hören täglich von den Völkern en den Nachbarländern und verstehen aus dem inneren Ruf der Liebe und durch Zeichen, wieviel mein Sohn getan hat, und dass er für alle gelitten hat.
Daher rufen sie in ihrem Gewissen zu meinem Sohn: „O Herr, wir haben gehört, dass du versprochen hast, dich selber uns zu schenken. Daher warten wir auf dich. Komm und löse dein Versprechen ein! Wir verstehen ja und sehen, dass es bei denen, die wie Götter verehrt werden, kein Gotteskraft, kein Liebe zu den Seelen, keine lobenswerte Größe der Keuschheit gibt. Bei ihnen finden wir nur körperliche Freundschaft und Liebe für die Ehre dieser Welt.
Wir vernehmen dein Gesetz und hören von deinen großen Wundertaten in aller Barmherzigkeit und Gerechtigkeit. Wir hören die Aussprüche deiner Propheten, dass sie dich erwarten haben, was sie prophezeiten. Komm daher, du mildester Herr, denn wir wollen uns dir gerne schenken, nachdem wir verstehen, dass es bei dir die Liebe zu den Seelen gibt, kluge Benutzung aller Dinge, vollkommene Reinheit und ewiges Leben. Ja komm bald, denn wir sind vor Sehnsucht nach dir wie tot, und erleuchte uns!“
So rufen diese Menschen zu meinem Sohn. Und deshalb ist auch ihre Tür halb offen, denn sie haben den ehrlichen Willen zum Guten, sind aber noch nicht bis zu seiner Wirkung vorgestoßen.
Diese Menschen verdienen, die Gnade und den Trost meines Sohnes zu erhalten. Im fünften Haus sind meine Freunde und die meines Sohnes, und die Tür ihres Sinnes steht meinem Sohn ganz offen. Sie hören meinen Sohn gern, wenn er sie ruft. Sie öffnen, wenn er kommt. Mit dem Hammer der göttlichen Gebote zerschlagen sie alles, was verkehrt bei ihnen ist, und bereiten meinem Sohne einen Ruheplatz, nicht auf Vogeldaunen, sondern in Eintracht mit den Tugenden und unter Zügelung der Begierde, was das Mark aller Tugenden ist.
Sie schenken meinem Sohn auch Wärme, nicht die, die von Wolle stammt, sondern von einer so brennenden Liebe, dass sie meinem Sohn nicht nur all ihr Hab und Gut schenken, sondern auch sich selbst. Ferner bereiten sie ihm eine Kost, die frischer ist als alles Fleisch nämlich das allervollkommenste Herz, womit sie nichts anderes begehren oder lieben, als ihren Gott. In ihrem Herzen wohnt der Herr des Himmels, und von ihrer Liebe wird Gott köstlich erquickt – er, der selber alles erquickt. Sie haben ihre Augen stets auf die Tür gerichtet, so dass der Feind nicht eintreten kann, die Ohren zum Herrn gewendet, und die Hände bereit zum Kampf gegen den Feind.
|