9. Kapitel

Jede Zeit in diesem Leben ist nur wie eine Stunde für mich. Daher ist das, was ich dir nun sage, immer in meinem Vorherwissen enthalten gewesen. Ich sagte dir vorher, dass es einer war, der eine wahre Ritterschaft begann, und ein anderer, der sie schamlos verlassen hat. Der von der wahren Ritterschaft abgewichen ist, warf mir seinen Schild vor meine Füße und das Schwert neben mich, als er sein Gelübde und seinen heiligen Dienst gebrochen hat.

Was bezeichnet nun den Schild, den er weggeworfen hat, wenn nicht den rechten Glauben, mit dem er sich gegen die Feinde des Glaubens und seiner Seele verteidigen sollte? Und was sind meine Füße, mit denen ich zum Menschen gehe, wenn nicht die göttliche Freude, mit der ich den Menschen zu mir ziehe, und die Geduld, mit der ich ihn geduldig ertrage?

Diesen Schild warf er weg, als er beim Eintritt in meinen Tempel bei sich dachte: „Ich will dem Herren folgen, der mir nicht zu irgendwelcher Enthaltsamkeit geraten hat, sondern der mir gibt, was ich begehre, und der mich auch das hören lässt, was den Ohren behagt.“
So warf er also den Schild meines Glaubens fort, als er seinem eigenen Willen mehr folgen wollte als dem meinen, als er das Geschaffene mehr liebte, als den Schöpfer. Wenn er einen rechten Glauben gehabt hätte, wenn er geglaubt hätte, dass ich allmächtig bin, dass ich gerecht urteile und ewige Ehre schenke, dann hätte er sich nicht nach etwas anderem gesehnt als mir, nichts anderes gefürchtet, als mich.

Aber er hat seinen Glauben weggeworfen, und das vor meine Füße, als er, nachdem er meinen Glauben verachtet und ihn für nichts gehalten hat, weder nach meiner Freude fragte oder auf meine Geduld Acht gab. Weiter hat er auch das Schwert an meiner Seite hingeworfen. Was bezeichnet dieses Schwert anderes als die Gottesfurcht, die ein wahrer Ritter stets in seinen Händen, d.h. in seinen Taten haben soll?

Und was bezeichnet meine Seite anderes, als meine Fürsorge und meinen Schutz, mit dem ich meine Kinder umhege und verteidige, wie die Henne ihre Küken, so dass ihm nicht der Teufel schaden kann, oder unerträgliche Gefahren zustoßen? Aber dieser Mann hat das Schwert meiner Furcht weggeworfen, als er sich nicht mehr darum kümmerte, an meine Macht zu denken und nicht auf meine Liebe und Geduld acht gab. Er warf es neben mir hin, als ob er sagen wollte: „Ich habe keine Furcht und kümmere mich nicht um deine Verteidigung, denn was ich besitze, das stammt von meinem Fleiß und meiner vornehmen Herkunft.“

Er hat auch das Gelübde gebrochen, das er mir gegeben hatte. Was ist das wahre Gelübde, das der Mensch Gott geben soll? Gewiß die Werke der Liebe, denn was immer der Mensch auch tut, soll er aus Liebe zu Gott tun. Aber er hat das gebrochen, als er die Gottesliebe zur Eigenliebe verkehrte und all seine eigene Lust vor die künftige und ewige Freude setzte.

Sieh, so hat er sich von mir getrennt und hat den Tempel meiner Demut verlassen. Alle Leiber der Christen, in denen Demut herrscht, sind nämlich mein Tempel. Aber die, bei denen Hoffart herrscht, sind nicht mein Tempel, sondern der des Teufels, der sie nach seinem Willen dazu treibt, nach weltlichen Dingen zu trachten. Nachdem er aus dem Tempel meiner Demut weggegangen ist und den Schild des heiligen Glaubens und das Schwert meiner Furcht weggeworfen hat, ist er mit allem Übermut ins Feld gegangen, hat sich in aller Wollust und in der Begierde seines Eigenwillens geübt, und nachdem er die Furcht vor mir verschmähte, nahm er an Sünde und an bösen Lastern zu.

Aber als er an das äußerste Ende seines Lebens kam und die Seele den Leib verlassen sollte, stürmten Teufel auf sie zu und drei Stimmen aus der Hölle tönten ihr entgegen. Die erste sagte: „Sollte das nicht der sein, der von der Demut abgewichen ist und uns in aller Hoffart gefolgt ist? Wenn er an Hoffart zwei Fuß höher steigen könnte als wir, um uns sogar zu übertreffen und an Hoffart der erste zu sein, so hätte er das gern getan.“

Die Seele antwortete darauf: „Ja, ich bin derselbe.“ Da antwortete ihr die Gerechtigkeit: „Das ist die Vergeltung für deine Hoffart, dass du von dem einen Teufel zum andern fallen sollst, bis du in die unterste Hölle kommst. Und wie es keinen Teufel gab, der nicht seine sichere Strafe wusste, die ihn für jeden unnützen Gedanken und jede unnütze Tat treffen würde, so sollst du keiner Strafe deiner Plagegeister entgehen, sondern die Gemeinheit und Bosheit von allen erfahren.“

Die zweite Stimme rief: „Sollte dies nicht der sein, der sich von der Ritterschaft getrennt hat, die er Gott gelobte, und sich unserer Ritterschaft angeschlossen hat?“ Die Seele erwiderte: „Ja, ich bin dieselbe.“ Und die Gerechtigkeit sagte: „Das ist deine Belohnung, dass ein jeder, der deiner Bosheit folgt, mit seiner Bosheit und Pein deine Plage und Pein erhöhen soll und dich bei seinem Kommen mit einer tödlichen Wunde treffen soll. Denn so wie der, der schon eine schwere Wunde hatte, unerträglich geplagt werden und Weh über Weh rufen soll, wenn ihm Wunde auf Wunde zugefügt wird, bis sein ganzer Leib voller Wunden ist – so soll Elend auf Elend über dich kommen. Dein Schmerz soll ständig erneuert werden, deine Plage soll niemals enden, und dein Weh niemals vermindert werden.“

Die dritte Stimme rief: „Sollte das nicht der sein, der den Schöpfer für das Geschaffene vertauschte, die Liebe zum Schöpfer für die Liebe zu sich selbst?“ Die Gerechtigkeit antwortete: „Ja, das ist er.“ Daher sollen sich ihm gleichsam zwei klaffende Galgen auftun. Durch den einen soll jede Pein zu ihm kommen, die für all seine Sünden bestimmt ist, von der kleinsten Sünde bis zur größten, nachdem er seinen Schöpfer gegen seine Wollust vertauscht hat.

Durch den anderen soll jede Mühe und Scham zu ihm kommen, und nie soll ihm göttlicher Trost oder Liebe nahen, denn er hat sich selbst statt seines Schöpfers geliebt. Daher soll sein Leben ohne Ende sein, und seine Strafe ohne Ende, und alle Heiligen sollen ihr Antlitz von ihm abwenden.
Sieh, meine Braut, wie unglücklich die werden sollen, die mich verschmähen, und was für einen großen Schmerz sie sich für ein wenig Wollust einhandeln.“