12. Kapitel

Die Braut sagte: ”O mein Herr, ich weiß, dass niemand zum Himmel eingeht, wenn der Vater ihn nicht zieht. Zieh deshalb, mildester Vater, diesen kranken Bischof zu dir, und du, Gottes Sohn, gib deinen Beistand dazu, und du, Heiliger Geist, erfülle diesen kalten und entblößten Bischof deiner Liebe.“
Der Vater antwortete: „Wenn der, der zieht, stark ist, aber die Sache, die gezogen wird, allzu schwer ist, so wird die Arbeit sehr viel schneller zerstört und lahm gelegt. Wenn der, der gezogen wird, gebunden ist, kann er weder sich selber helfen, noch der Ziehende. Wenn er unrein ist, ist er verabscheuenswürdig, um gezogen und berührt zu werden. Dieser Bischof ist beschaffen wie der, der an einer Wegegabelung steht und überlegt bei sich selbst, welchen Weg er einschlagen soll.“

Die Braut erwiderte: „O mein Herr, steht nicht geschrieben, dass niemand stetig in diesem Leben steht, sondern entweder zu dem hinweicht, was besser ist, oder zu dem, was schlechter ist?“
Der Vater entgegnete: „Beides von dem kann gesagt werden, denn er steht zwischen zwei Wegen, nämlich dem der Freude und dem des Schmerzes. Er wird beunruhigt von Angst vor der ewigen Strafe und will die himmlische Freude gewinnen, und doch scheint es ihm schwer, den Weg vollkommen zu wandern, der zur Freude führt. Er geht jedoch, wenn er ihm folgt, den Weg, zu dem er eine heißere Sehnsucht hat.“

Weiter sprach die heilige Agnes: „Dieser Bischof ist wie der beschaffen, der zwischen zwei Wegen stand, von denen er wusste, dass der eine anfangs schmal, aber am Ende freudevoll sein wird, und der andere eine Zeitlang vergnüglich ist, aber zuletzt in eine bodenlose und qualvolle Tiefe führt. Als der Reisende dastand und über diese Wege nachdachte, empfand er es verlockend, den Weg zu gehen, der im Anfang vergnüglich war, aber er bebte doch vor der bodenlosen Tiefe, und so bekam er folgenden Gedanken: „Es muss doch irgendeine Richtung bei diesem vergnüglichen Wege geben; wenn ich den finde, kann ich lange sicher wandern, und wenn ich ans Ende und an die Tiefe gelange, wird sie mir nichts Böses antun, wenn ich nur den Richtweg finde. So ging er sicher auf dem Weg, aber als er an den Abgrund kam, stürzte er elend ab, denn er fand den Richtweg nicht, wie er gedacht hatte.

Männer, die in dieser Weise denken, findet man heute viele. Sie denken so: „Es ist mühsam, den schmalen Weg zu gehen, und schwer ist es, den Eigenwillen und die weltliche Ehre aufzugeben. Daher geben sie sich einer falschen und gefährlichen Hoffnung hin. „Lang ist unser Leben,“ sagen sie, „Gottes Erbarmen ist sehr groß, die Welt ist lieblich und zur Belustigung geschaffen, daher steht dem nichts im Wege, dass ich die Welt eine Zeitlang gebrauche, wie ich will, denn wenn mein Leben sich seinem Ende zuneigt, dann will ich Gott folgen. Es gibt ja einen Richtweg auf dieser Welt nämlich Reue und Beichte; wenn ich den finde, werde ich erlöst.“

Ein solcher Gedanke, nämlich bis zum Ende sündigen zu wollen und erst dann zu beichten, ist eine sehr schwache Hoffnung, denn sie kennen nicht das Wort (des Richters), bevor sie fallen, und manchmal werden sie zu allerletzt von einer so schweren Plage befallen, oder nehmen ein so schnelles Ende, dass sie in keiner Weise mehr eine fruchtbringende Reue finden können. Und das mit Recht, denn sie wollten das kommende Unheil nicht voraussehen, als sie es noch konnten, denn sie setzten nach ihrem Gutdünken und ihrem Bestimmen die Zeit für Gottes Erbarmen fest, und sie dachten nicht daran, mit der Sünde Schluss zu machen, ehe sie sie nicht länger genießen konnten.

In ähnlicher Weise stand auch dieser Bischof zwischen diesen beiden Wegen. Nun nähert er sich aber dem angenehmeren Weg, dem Weg des Fleisches, und er hat gleichsam drei Blätter vor sich, die er durchliest. Das erste Blatt liest er mit Behagen und liest es ständig. Das zweite liest er manchmal, aber nicht im Vergnügen. Das dritte Blatt liest er selten, und dann mit Schmerz.
Das erste sind die Reichtümer und Ehrenbezeugungen, mit denen er sich amüsiert. Das zweite ist die Furcht vor der Hölle und dem kommenden Gericht, was ihn plagt. Das dritte ist die Liebe zu Gott und die Furcht des Sohnes, die er selten empfindet. Denn wenn er bedenken würde, was Gott für ihn getan hat und was er ihm schuldig ist, würde die Liebe zu Gott nie in seinem Herzen erlischen.“
Die Braut antwortete: „Oh meine Frau, bitte für ihn!“

Da sagte die hl. Agnes. „Was macht die Gerechtigkeit anders, wenn sie nicht richtet, und was tut die Barmherzigkeit, wenn sie nicht ruft und lockt?“
Gottes Mutter sagte: „So kann man zum Bischof sagen: „Wenn Gott auch alles tun kann, muss der Mensch doch selbst mitwirken, dass man vor der Sünde flieht, und die göttliche Liebe erhalten bleibt. Es gibt drei Dinge, die den Menschen instand setzen, der Sünde zu entfliehen, und drei Mittel, durch die er die Liebe erreichen kann. Die drei Dinge, womit man der Sünde ausweicht, sind vollkommene Reue, der Vorsatz, die Sünde nicht mehr zu begehen, sowie Besserung nach dem Rat derer, bei denen man sieht, dass sie die Welt verschmäht haben.

Die drei Dinge, die dazu beitragen, dass man die Liebe gewinnt, sind Demut, Barmherzigkeit und Arbeit im Dienst der Liebe. Denn man braucht dazu nicht mehr, dass einer ein einziges Paternoster mit der Absicht liest, die Liebe zu erlangen, damit ihm die Wirkung der Liebe schneller als sonst erreichen kann.

Was den anderen Bischof betrifft, über den ich früher mit dir gesprochen habe, will ich zuletzt sagen, dass die Gräben ihm sehr breit scheinen, um darüber zu springen, dass die Mauern sehr hoch sind, um sie zu übersteigen, und dass die Regeln sehr streng sind, um sie zu brechen. Deshalb stehe ich auch und warte auf ihn, aber er hat seinen Kopf drei Scharen zugewandt, die er mit Vergnügen betrachtet. Die erste Schar tanzt und singt; zu der sagt er: „Es gefällt mir, euch zu hören; wartet auf mich!

Die zweite steht und hält Ausschau; zu der sagt er: „Es gefällt mir, zu sehen, was ihr seht, denn das macht mir großes Vergnügen!“ Die dritte freut sich und ruht sich aus, und er sucht mit ihr zusammen Ruhe und Ehre. Aber auf der Welt zu tanzen und zu singen – was ist das anderes, als von der einen zeitlichen Freude zur anderen zu fahren, von dem einen Ehrgeiz zum anderen?
Dazustehen und Ausschau zu halten – was ist das anderes, als die Seele von der Betrachtung des Göttlichen abzuwenden und an das Sammeln und Ausgeben zeitlicher Dinge zu denken? Auszuruhen – was ist das anderes, als die Ruhe des Leibes zu haben?

Nun ist der Bischof auf einen hohen Berg gestiegen, um diese drei Scharen zu betrachten, und er kümmert sich nicht um die Worte, die ich ihm gesandt habe, oder um diesen Abschluss der Worte, nämlich, dass wenn er sein Versprechen hält, werde ich auch meines halten.“

Die Braut erwiderte: „O holdreichste Mutter, geh nicht von ihm weg!“ Die Mutter sagte zu ihr: „Ich werde nicht von ihm fortgehen, ehe der Staub den Staub aufnimmt. Und wenn er die Regeln bricht, will ich ihm wie eine Dienerin begegnen und ihm wie einer Mutter helfen.“ Und sie setzte hinzu: „Tochter, du denkst daran, welche Belohnung dieser Domherr in Orleans erhalten hätte, wenn sein Bischof sich bekehren würde. Ich antworte dir: Wie du siehst, dass der Erdboden Kräuter und Blumen von verschiedener Gestalt und verschiedenen Arten hervorbringt, so hätten alle Menschen, wenn sie von Anbeginn der Welt auf ihrem vorgesehenen Platz stehen geblieben wären, einen herrlichen Lohn empfangen. Denn jeder, der in Gott lebt, geht von der einen Freude zu anderen, nicht weil er Unlust mitbringt, sondern weil das Vergnügen ständig wächst, und die unaussprechliche Freude unaufhörlich erneuert wird.“

Erklärung
Dieser Bischof war in Växjö. Als er in Rom war, war er sehr beunruhigt und wollte heimkehren. Die Braut (Birgitta) hörte da im Geist: „Sage dem Bischof, dass sein Hier bleiben nützlicher ist, als seine Eile, abzureisen. Die von seinem Gefolge, die vorher abgereist waren, sollen erst später kommen, als er. Wenn er daher ins Vaterland zurückgekehrt ist, wird er meine Worte bestätigt finden.“
Alles ging also in dieser Weise vor sich. Denn als er heimkehrte, fand er den König gefangen und das ganze Reich in Unordnung. Die Herren im Gefolge, die vorausgefahren waren, wurden unterwegs behindert und kamen erst viel später an. „Wisse auch, dass die Frau, die im Gefolge des Bischofs ist, gesund heimkehren wird, aber sie wird nicht im Vaterlande sterben.“ So ging es auch, denn sie kam noch ein zweites Mal nach Rom und starb und wurde dort begraben.
Zusatz
Als Frau Birgitta vom Berg Monte Gargano in die Stadt Manfredonia im Reich Apulien kam, war dieser Bischof in ihrem Gefolge, und da geschah es, dass er vom Pferde stürzte und sich so schwer verletzte, dass zwei Rippen brachen. Als er am Morgen mit Frau Birgitta nach Sankt Nikolaus in Bari reisen sollte, rief er sie zu sich und sagte: „O meine Frau, es ist sehr schwer für mich, hier ohne euch zu bleiben. Und es ist für euch auch sehr beschwerlich, meinetwegen hier zu bleiben, besonders wegen dieser Friedensstörer. Ich beschwöre euch um der Liebe Jesu Christi Willen, dass ihr für mich zu Gott betet und meine geplagte Seite berührt. Ich hoffe nämlich, dass meine Schmerzen durch die Berührung eurer Hand gelindert werden.“

Aus Mitleid in Tränen aufgelöst, sagte sie: „O mein Herr, man hat eine unrichtige Auffassung von mir, denn ich bin die größte Sünderin in Gottes Augen. Aber wollen wir alle zu Gott beten, so wird er euren Glauben belohnen.“ Als sie sich nach verrichtetem Gebet erhob, berührte sie die Seite des Bischofs, und sagte: „Der Herr Jesus Christi heile dich.“ Gleich verschwand der Schmerz, der Bischof stand auf und folgte Frau Birgitta auf dem ganzen Weg, bis sie nach Rom zurückgekehrt war.