29. Kapitel

Gesegnet seist du, Maria, Gottes Mutter! Du bist Salomos Tempel, dessen Wände vergoldet waren, dessen Dach schimmerte, dessen Boden mit den teuersten Steinen belegt war, dessen ganze Anlage strahlend schön war, dessen ganzes Innere wohlduftend und lieblich anzuschauen war. Du kannst sicher in jeder Weise mit Salomos Tempel verglichen werden, in dem der wahre Salomo wandelte und saß, und in den er die Bundeslade und die Lichtstöcke aufstellte, um zu leuchten.

So bist du, gesegnete Jungfrau, der Tempel für den Salomo, der Frieden zwischen Gott und dem Menschen stiftete, der die Strafbaren wieder versöhnte, der den Toten Leben schenkte von dem harten Vogt befreite. Dein Leib und deine Seele wurden sicher der Tempel der Gottheit, worin es das Dach der göttlichen Liebe gab, unter dem Gottes Sohn vom Vater zu dir ausging und mit Freude bei dir wohnte. Der Boden des Tempels war dein schön geordnetes Leben und deine beharrliche Ausübung der Tugenden.

Dir fehlte keine Ehrbarkeit, denn alles in dir war beständig, alles war demütig, alles war fromm, alles war vollendet. Die Wände des Tempels waren Quadersteine, denn du wurdest nicht vor irgendeinem Schimpf beleidigt, wurdest nicht von irgendeiner Ehre zum Hochmut verleitet, wurdest nicht durch irgendwelche Ungeduld beunruhigt und hast nichts anderes begehrt, als Gottes Ehre und Liebe. Die Gemälde deines Tempels war die ständige Erweckung durch den Heiligen Geist, wodurch deine Seele so erhoben wurde, dass es keine Tugend gab, die nicht vollständiger und vollkommener in dir, als in irgendeinem anderen geschaffenen Wesen war. In diesem Tempel wandelte also Gott, als er die Lieblichkeit seines Besuches in deine Glieder eingoss, und er weilte da, als sich die Göttlichkeit mit dem Menschentum vereinigte.

Darum seist du gesegnet, allerseligste Jungfrau! In dir wurde der große Gott ein kleiner Wicht, der allerälteste Herr ein schwacher kleiner Sohn, der ewige Gott und unsichtbare Schöpfer ein sichtbares, geschaffenes Lebewesen. Deshalb bitte ich dich (denn du bist die mildeste und mächtigste Frau): Sieh mich an und erbarme dich über mich! Du bist ja die Mutter für Salomo, aber nicht für ihn, der Davids Sohn war, sondern für den, der Davids Vater und Salomos Herr ist, der den wunderbaren Tempel erbaute, der dich in Wahrheit bezeichnet hat.

Der Sohn soll die Bitte seiner Mutter erhören, besonders die von einer solchen und so großen Mutter. Bewirke deshalb, dass der kleine Wicht Salomo, der sozusagen in dir schlief, in mir wach sein möge, so dass mich nicht das Begehren nach irgendeiner Sünde bedrängen möge, so dass mich nicht das Begehren nach irgendeiner Sünde bedrängen möge, sondern dass meine Zerknirschung über begangene Sünden beständig sei, und meine Buße fruchtbar. Ich habe ja nur eins, was mir zum Verdienst gereicht, und das ist ein einziges Wort: „Erbarme dich, Maria“, denn mein Tempel steht ganz und gar im Gegensatz zu deinem. Er ist nämlich verdunkelt von Lastern, beschmutzt von Wollust, zerstört von Würmern des Verlangens, unstet durch Hochmut und hinfällig durch weltliche Nichtigkeiten.

Die Mutter erwiderte: „Gesegnet sei Gott, der deinem Herzen eingab, diesen Gruß auszusprechen, damit du verstehen sollst, eine wie große Güte und Lieblichkeit es bei Gott gibt! Aber warum vergleichst du mich mit Salomo und seinem Tempel, wenn ich die Mutter für ihn bin, dessen Ahnen weder Anfang noch Ende haben, und von dem man liest, dass er weder Vater noch Mutter hatte, nämlich Melchisedek? Denn er wird beschrieben, dass er Priester war, und Gottes Tempel gehört zu den Priestern, und deshalb bin ich die Mutter des Oberpriesters und auch Jungfrau.

Ich sage dir in Wahrheit, dass ich sowohl Mutter für Salomo als auch für den Priester bin, der Frieden stiftete. Denn Gottes Sohn, der ja auch mein Sohn ist, ist sowohl Priester und König der Könige. In meinem Tempel kleidete er sich geistlich mit den Priestergewändern, in denen er das Opfer für die Welt darbrachte. In der königlichen Stadt wurde er mit einer königlichen, aber schmerzhaften Krone gekrönt. Draußen kämpfte er Schlacht und Streit wie der stärkste Kämpe.

Nun muss ich jedoch darüber klagen, dass mein Sohn von den Priestern und den Königen vergessen ist. Die Könige rühmen sich ja ihrer Paläste, ihrer Heere, ihres Erfolges und ihrer Ehre auf der Welt.
Die Priester sind hochmütig wegen der Güter der Seelen und wegen zeitlicher Besitztümer. Denn wie du sagtest, dass der Tempel mit Gold bemalt ist, so sind die Tempel der Priester mit weltlichen Nichtigkeiten und Neugier bemalt, denn bei ihrem Oberhaupt herrscht Simonie, die Bundeslade ist weggeführt, die Lampen der Tugenden erloschen, der Tisch der Gottesfurcht ist aufgegeben.“

Die Braut erwiderte: „O Mutter der Barmherzigkeit, erbarme dich über sie und bitte für sie.“ Die Mutter sagte zu ihr: „Von Anfang an hat Gott die Seinen so sehr geliebt, dass er nicht nur die Gebete für sich selber hört, sondern auch andere erfahren Gebetserhörungen ihretwegen. Deshalb sind dafür, dass Gebete für andere erhört werden sollen, zwei Dinge notwendig, nämlich der Wille, die Sünde abzulegen, und der Wille, sich im Guten zu vervollkommnen. Ein jeder, der diese beiden Dinge hat, wird Nutzen von meinen Gebeten haben.“