30. Kapitel

Die heilige Agnes spricht zur Braut und sagt: „Tochter, liebe die Mutter der Barmherzigkeit! Sie ist nämlich wie die Blume oder Simse, deren Gestalt wie ein Schwert ist, und die zwei sehr scharfe Schneiden und eine scharfe Spitze hat, und an Höhe und Breite alle anderen Blumen übertrifft. So ist Maria die Blume aller Blumen und die Blume, die im Tal entsproßte und sich über alle Berge ausbreitete, ja die Blume, die in Nazareth wuchs und auf den Bergen Libanons erblühte.

Diese Blume war höher als alles andere, denn die gesegnete Königin des Himmels übertraf jedes Geschöpf an Würde und Macht. Maria hatte auch die beiden schärfsten Schwertkanten, nämlich die Betrübnis des Herzens bei der Pein des Sohnes und den standhaften Kampf gegen die Angriffe des Teufels (sie war nämlich niemals mit der Sünde einverstanden). Der alte Mann sagte mit Recht voraus, als er sagte: „Ein Schwert wird durch deine Seele gehen.“ Sie ertrug nämlich auf geistliche Art ebenso viele Schwerthiebe, die sie voraussah, und sah ihren Sohn Wunden und Schmerzen leiden.

Maria übertraf außerdem an Breite, nämlich Barmherzigkeit, alle anderen. Denn sie war und ist so mild und barmherzig, dass sie lieber alle Trübsale ertragen würde, als dass die Seelen nicht erlöst würden. Jetzt, da sie mit ihrem Sohn vereint ist, vergisst sie ihre angeborene Güte nicht, sondern erstreckt ihre Barmherzigkeit auf alle, sogar die allerschlechtesten. Wie Himmel und Erde von der Sonne erleuchtet und erwärmt wird, so gibt es niemanden, der keine Milde von der holden Maria erfährt, wenn er darum bittet.

Maria hatte ferner eine scharfe Spitze, und das war die Demut. Durch sie gefiel sie auch dem Engel, indem sie antwortete, sie sei des Herren Magd, obwohl sie ja zur Herrscherin erkoren war. Durch diese Demut empfing sie Gottes Sohn, denn sie wollte nicht, dass die Hochmütigen bestraft würden. Durch (die Demut) stieg sie auch zum höchsten Himmelsthron auf, denn sie liebte nichts anderes als Gott. Tritt daher leibhaft vor und begrüße die Mutter der Barmherzigkeit, denn nun kommt sie.“ Nun zeigte sich Maria und sagte: „Du hast von einem Substantiv gesprochen, Agnes – nun füge auch ein Adjektiv hinzu!“ Agnes sagte: „Wenn ich sagen würde ‚die Allerschönste’ oder ‚Allertugendreichste’, so würde das niemandem mit größerem Recht zukommen, als dir, die die Mutter der Erlösung aller Menschen ist.“

Gottes Mutter entgegnete der hl. Agnes: „Es ist wahr, was du gesagt hast, dass ich mächtiger als alle anderen bin. Dafür will ich ein Adjektiv und ein Substantiv hinzufügen, nämlich: Das sprechende Rohr des Heiligen Geistes. Aber komm, du Sprachrohr, und hör mir zu! Du bist bekümmert darüber, dass man unter Menschen diese Redensart hört: ‚Laßt uns nach unserer Lust leben, denn Gott ist leicht zu besänftigen. Laßt uns die Welt und ihre Ehre genießen, so lange wir es können, denn die Welt ist ja um der Menschen willen gemacht.“

Wahrlich, meine Tochter, eine solche Redensart geht nicht aus Gottes Liebe hervor und führt auch nicht zur Gottesliebe. Trotzdem vergisst Gott deshalb seine Liebe nicht, sondern zeigt trotz der Undankbarkeit der Menschen stets seine Güte. Denn er ist wie ein Kunstschmied, der ein vornehmes Werk schmiedet und der manchmal das Eisen glühend macht, manchmal es abkühlt. So hat Gott, dieser größte Kunstschmied, der die Welt aus nichts geschaffen hat, dem Adam und seinen Nachkommen seine Liebe.

Die Menschen sind jedoch in ihrer Liebe zu Gott so sehr erkaltet, dass sie Gott für nichts achteten und viele schwere Sünden begingen. Daher zeigte Gott sein Erbarmen durch sanfte Ermahnungen, aber dann doch eine Gerechtigkeit durch die Sintflut. Nach der Sintflut schloß Gott aber seinen Bund mit Abraham, gab diesem Zeichen für seine Liebe und Huld, führte sein Volk unter den größten Zeichen und Wundertaten (aus Ägypten), gab dem Volk durch seinen eigenen Mund Gesetze, bekräftigte seine Worte und bestätigte sie mit deutlichsten Zeichen.
Als das Volk im Lauf der Zeit erkaltete und auf solchen Unfug verfiel, dass es sogar Abgötter verehrte, wollte der gute Gott die Kalten noch einmal erwärmen und sandte der Welt seinen eigenen Sohn, der sie den rechten Weg zum Himmel lehrte und ihnen die wahre Demut zeigte, der sie folgen sollten.

Nun ist er von vielen völlig vergessen, aber er bietet uns doch immer noch Worte seines Erbarmens an.
Es soll aber nicht alles auf einmal vollendet werden, jetzt ebenso wenig wie früher. Denn ehe die Sintflut kam, wurde das Volk zur Buße ermahnt, und diese Buße wartete Gott ab. So wurde auch Israel, ehe es das verheißene Land betreten durfte, erst erprobt, und die Verheißung wurde eine Zeitlang aufgeschoben. Sicher hätte Gott sehr gut das Volk in vierzig Tagen herausführen können und nicht die Zeit auf vierzig Jahre zu verlängern brauchen, aber Gottes Gerechtigkeit erforderte, dass sich die Undankbarkeit des Volkes zeigen sollte, dass Gottes Barmherzigkeit offenbar werden und das spätere Volk sich umso mehr demütigen sollte.

Wenn nun jemand wissen möchte, warum Gott sein Volk so geplagt hat, oder warum eine Plage ewig dauern sollte, wenn der sündige Lebenswandel nicht ewig dauern kann, so wäre das eine große Vermessenheit, ebenso wie der vermessen ist, der mit seinen Gedanken und seinem Verstand zu verstehen und zu begreifen sucht, wie Gott ewig sein kann.

Wahrlich, Gott ist ewig und unbegreiflich, und in ihm ist ewige Gerechtigkeit und Vergeltung, ebenso wie unerforschliche Barmherzigkeit. Wenn Gott nicht gegen die ersten Engel Gerechtigkeit geübt hätte, wie sollte man dann seine Gerechtigkeit kennenlernen und wissen, dass er alles unparteiisch richtet? Und wenn er dem Menschen keine Barmherzigkeit gezeigt hätte, indem er ihn erschuf und durch unzählige Vorzeichen gerettet hat – wie könnte man dann seine große Güte und seine grenzenlose, vollkommene Liebe kennenlernen?

Und deshalb gibt es bei Gott, weil er ewig ist, eine ewige Gerechtigkeit, zu der nichts hinzugefügt oder weggenommen werden kann. So wie der Mensch sich ausdenkt, sein Werk auf eine bestimmte Weise oder an einem bestimmten Tag zu tun, so offenbart Gott, wenn er seine Gerechtigkeit oder Barmherzigkeit üben will, dies in der Zeit, denn von Ewigkeit ist alles bei ihm da, vergangene und zukünftige Dinge. Deshalb sollen Gottes Freunde in ihrer Gottesliebe geduldig ausharren und sich nicht beunruhigen und betrüben, wenn sie auch sehen, dass weltliche Menschen Erfolg haben.

Gott kann mit einer guten Wäscherin verglichen werden, die ein unsauberes Kleid in die Wellen legt, damit es durch die Berührung mit dem Wasser reiner und weißer wird, aber gleichzeitig genau auf den Wellengang achtet, dass das Kleid nicht versinkt. So legt Gott in diesem Leben seine Freunde in die Wogen der Armut und der Trübsal, durch die sie für das ewige Leben gereinigt werden können, aber er schaut genau darauf, dass sie nicht durch allzu viel Sorgen und unerträgliche Trübsal untergehen.“