6. Kapitel

Ich bin Bischof Ambrosius, der ich mich dir offenbare und in einem Gleichnis mit dir rede, da dein Herz den Inhalt geistlicher Dinge nicht ohne ein weltliches Gleichnis fassen kann. Es war einmal ein Mann, der eine rechtmäßig getraute Frau besaß, die sehr schön und klug war. Aber das Dienstmädchen gefiel ihm mehr als die Ehefrau, und aus diesem Anlass trafen drei Dinge ein. Das erste war, dass ihn die Worte und Gebärden des Dienstmädchens mehr freuten, als die seiner Frau. Das zweite war, dass er die Dienstmagd in die feinsten Kleider kleidete und sich nicht darum kümmerte, dass seine Frau zerlumpt ging und in einfache Lumpen gekleidet war. Das dritte war, dass er neun Stunden bei der Dienstmagd und nur die zehnte bei seiner Frau verbrachte.

Denn die erste Stunde wachte er bei der Dienstmagd und freute sich, auf ihre Schönheit zu sehen. Die zweite Stunde schlief er in ihren Armen. Die dritte Stunde nahm er freudig körperliche Mühen zugunsten der Dienstmagd auf sich. Die vierte Stunde genoss er nach der Ermüdung des Körpers körperliche Ruhe bei ihr. Die fünfte Stunde hatte er Unruhe und Sorge um ihr Wohl im Sinn. Die sechste Stunde genoss er bei ihr Sinnesruhe, denn er sah sich von seiner Sorge um sie vollkommen ausgefüllt. Die siebente Stunde fuhr der Brand des fleischlichen Verlangens in ihn. Die achte Stunde befriedigte er das Verlangen seiner Lust mit ihr. Die neunte Stunde unterließ er es, ein paar Dinge zu tun, die er doch gern hätte tun wollen. Die zehnte Stunde tat er schließlich ein paar Dinge, die er aber nicht gern tun wollte. Und so blieb er nur eine einzige Stunde bei seiner Frau.

Aber einer der Freunde seiner Frau kam zum Ehebrecher, tadelte ihn streng und sagte: „Wende die Liebe deines Sinnes deiner ehelichen Gemahlin zu, liebe sie und kleide sie, wie es sich gehört, und bleibe neun Stunden bei ihr, und nur die zehnte bei der Dienstmagd; sonst sollst du wissen, dass du den schlimmsten Tod erleiden wirst.“
Unter diesem Ehebrecher verstehe ich einen Vorsteher der Kirche, der ein bischöfliches Amt hat, aber ein Hurenleben führt. In der Tat, er ist durch ein geistliches Band so vereint mit der heiligen Kirche, dass sie seine liebste Braut sein sollte, aber doch wandte er seine Liebe von ihr ab und liebte die Dienstmagd – die Welt – viel mehr als die Herrscherin, die Braut, die doch so schön ist.

Und deshalb tut er drei Dinge. Das erste ist, dass er sich mehr über die schmeichlerische Huldigung der Welt freut, als über das tugendhafte Benehmen der heiligen Kirche. Das zweite ist, dass er allen Prunk liebt, den die Welt zu bieten hat, sich aber wenig um den Mangel kümmert, an dem der Punk der Kirche geistlich und weltlich leidet. Das dritte ist, dass er neun Stunden der Welt widmet, aber nur die zehnte der heiligen Kirche. Denn die erste Stunde wacht er fröhlich bei der Welt und betrachtet wollüstig ihre Schönheit. Die zweite Stunde schläft er süß in den Armen der Welt, nämlich im Schutze hoher Mauern und bewaffneter Wächter, und er hofft dadurch glücklich die Sicherheit seines Leibes zu bewahren.

Die dritte Stunde erträgt er fröhlich körperliche Mühen, um weltliche Vorteile zu gewinnen, so dass er sich dadurch körperlich mit der Welt amüsieren kann. Die vierte Stunde lässt er gern seinen Körper nach seiner Mühe ruhen, denn er hat schon reichlich von dem bekommen, was ihm behagt. Die fünfte Stunde hat er in vielfacher Weise Unruhe in seinem Sinn, denn er will so scheinen, als ob er weise für weltliche Dinge sorgen würde.

Die sechste Stunde genießt er ausgiebig die Sinnesruhe, denn er sieht, dass seine Fürsorge weltlichen Menschen allgemein gefällt. Die siebente Stunde hört und sieht er die Lustbarkeiten und stellt seinen Willen gern darauf ein, so dass sein Herz dadurch von einem ungeduldigen und unleidigen Brand entflammt wird. Die achte Stunde führt er das aus, was er vorher so heiß ersehnt hatte. Die neunte Stunde unterlässt er es der Welt zuliebe und zu keinem Nutzen, manche Dinge zu tun, die ihm an sich lieb sind, damit es nicht so aussieht, dass er die kränkt, die er irdisch lieb hat.

Die zehnte Stunde führt er ein paar gute Taten aus, aber nicht mit Freuden, sondern aus Furcht, dass er einen schlechten und verächtlichen Ruf erhält und schlecht beurteilt wird, wenn er es aus irgendeinem Grund ganz unterlässt, sie zu tun. Nur diese zehnte Stunde pflegt er der heiligen Kirche zu widmen. Das Gute, das er tut, tut er nicht aus Liebe, sondern aus Furcht, weil er die Pein des Höllenfeuers fürchtet. Und wenn es ihm möglich wäre, ewig auf der Welt mit gesundem Körper und Überfluss an weltlichen Dingen zu leben, würde er sich um den Verlust der himmlischen Glückseligkeit nicht kümmern.

Deshalb sage und versichere ich, und beteuere es bei Gott, der ohne Anfang und ohne irgendein Ende bleiben wird, dass – wenn er nicht schleunigst wieder der heiligen Kirche zuwendet und die neun Stunden bei ihr, aber die zehnte bei der Dienstmagd, d.h. der Welt, zubringt, so wird er einen ebenso schweren geistlichen Schlag in seiner Seele erhalten, wie die Person (um in einem weltlichen Gleichnis zu sprechen) erhält, die so gefährlich auf den Scheitel geschlagen wurde, dass sich alles Fleisch im Körper bis hinab zur Sohle auflöste, die Adern und die Sehnen barsten, die Beine entzweigebrochen und das Mark erbärmlich aus allen Ecken herausdrang. Und ebenso schwer wie das Herz des Körpers gepeinigt wurde, wird die elende Seele, die dem Schlag des göttlichen Gerichts am nächsten ist, in der bittersten Weise gepeinigt werden, da das Gewissen sich unleidlich verletzt sieht und überall gepeinigt wird.“