8. Kapitel

Die Mutter spricht: ”Ich bin die, die von Ewigkeit in Gottes Liebe war, und der Heilige Geist war von meiner Kindheit an in vollkommener Weise bei mir. Und wie du ein Beispiel von der Nuss nehmen kannst, deren Schale wächst und sich nach außen ausweitet, so wie die Nuss sich innen ausweitet und wächst, so dass die Nuss immer voll ist und sich nichts Leeres in ihr findet, das in der Lage wäre, von etwas ausgefüllt zu werden, das von außen kommen – so war auch ich von Jugend an voll vom Heiligen Geist, und nach dem Wachsen meines Körpers und Alters erfüllte der Heilige Geist mich ganz und gar und in so überreichem Maße, dass er nichts Leeres in mir ließ, so dass irgendeine Sünde darin eindringen könnte.

Und so bin ich die, die niemals eine Sünde begangen hat, sei sie verzeihlich oder tödlich. Ich war gewiss so brennend in der Liebe zu Gott, dass mir nichts anderes gefiel, als Gottes Willen zu erfüllen. Das Feuer der göttlichen Liebe brannte nämlich in meinem Herzen. Gesegnet sei Gott über alles, der mich mit seiner Macht geschaffen hat, der mich mit der Kraft des Heiligen Geistes erfüllte und eine brennende Liebe zu mir hegte.

Aus dieser Glut seiner Liebe heraus sandte er seinen Boten zu mir und ließ mich seinen Willen verstehen, nämlich dass ich Gottes Mutter werden sollte. Und als ich dies erfuhr, dass dies Gottes Wille war, so ging gleich aus der Glut der Liebe, die ich in meinem Herzen für Gott hegte, das Wort wahren Gehorsams aus meinem Mund, womit ich dem Boten antwortete: „Mir geschehe nach deinem Wort.“ Und im selben Augenblick wurde das Wort in mir Fleisch, und Gottes Sohn wurde mein Sohn, und so hatten wir zusammen einen Sohn, der zugleich Gott und Mensch ist, so wie ich Mutter und Jungfrau bin.

Als dieser mein Sohn, der der weiseste Mann und wahrer Gott ist, Jesus Christus, in meinem Mutterleib ruhte, erhielt ich von ihm eine so große Weisheit, dass ich nicht nur die Weisheit der Lehrer verstehen konnte, sondern auch in ihr Herz blicken und beurteilen kann, wie weit ihre Worte aus göttlicher Liebe oder nur aus Bücherweisheit hervorgehen.
Verkünde du, die diese Worte hört, also dem Magister, dass ich ihn nach drei Dingen fragen werde. Als erstes, wie weit er wünscht, lieber die weltliche Gunst und Freundschaft des Bischofs zu besitzen, als seine Seele geistlich vor Gott zu stellen.

Zweitens, wie weit er sich in seiner Seele freuen kann, allein viele Goldstücke zu besitzen, als garkeine. Drittens: Was ihm von diesen beiden Dingen mehr zu gefallen scheint: Magister genannt zu werden und unter den Ersten und meistgeehrten Herren um weltlicher Ehre willen zu sitzen, oder ein gewöhnlicher schlichter Bruder genannt zu werden und unter den Letzten zu sitzen.
Denn wenn er den Bischof mehr weltlich als geistlich liebt, so folgt daraus, dass er ihm lieber sagt, was er gern hört, als dass er ihm all das Sündige verbietet, was ihn zu tun gelüstet. Und wenn er sich mehr über den Besitz vieler Goldmünzen freut als über garkeine, so liebt er Reichtümer mehr als Armut und scheint seinen Freunden auch zu raten, dass sie lieber all das behalten sollen, was sie erwerben können, als es aufzugeben, was sie sehr gut entbehren könnten.

Aber wenn er sich über den Magistertitel um weltlicher Ehre willen freut, und um unter den Gelehrten zu sitzen, so liebt er ja den Hochmut mehr als die Demut, und deshalb scheint er für Gott mehr wie ein Esel, als ein Magister zu sein. Denn er kaut dann leere Strohhalme, was mit Büchergelehrsamkeit ohne Liebe zu vergleichen ist, und ihm fehlt dann der beste Weizen, der mit der Liebe zu vergleichen ist. Die göttliche Liebe kann ja nie in einem hochmütigen Herzen Fuß fassen.“

Als sich der Magister dann entschuldigt und gesagt hatte, dass er lieber die Seele des Bischofs geistlich vor Gott stellen wolle, dass er am meisten froh sein würde, keine Goldmünzen zu besitzen, und dass er sich drittens nichts aus dem Magistertitel mache, erwiderte die Mutter wieder: „Ich bin die, welche die Wahrheit aus Gabriels Munde hörte und ihnen ohne Zweifel glaubte, und daher nahm die Wahrheit auch Fleisch und Blut aus meinem Körper an und blieb in mir. Ich gebar aus mir dieselbe Wahrheit, die Gott und Mensch aus sich selber ist.

Und da die Wahrheit, die Gottes Sohn ist, zu mir kommen, in mir wohnen und von mir geboren werden wollte, so verstehe ich vollkommen, wie weit im Mund der Menschen Wahrheit ist, oder nicht.
Ich fragte den Magister nach drei Dingen, und ich hätte auch gefunden, dass er mir gut geantwortet hat, ob in seinen Worten Wahrheit steckte. Aber da das nicht der Fall war, will ich ihn vor drei anderen Dingen warnen. Das erste ist, dass es manche Dinge gibt, die er körperlich liebt und begehrt, und die wird er keinesfalls bekommen. Das zweite ist, dass er das, was er jetzt mit weltlicher Freude besitzt, bald verlieren wird. Das dritte ist, dass die Kleinen ins Himmelreich eingehen werden, aber die Großen draußen bleiben, da die Pforte eng ist.“