102. Kapitel

Gottes Mutter sprach zum Sohn und sagte: „Mein Klage ist groß. Obwohl du alles weißt, will ich es doch ihretwegen vorbringen, was hier steht.“ Der Sohn erwiderte: „Mir ist alle richterlich Vollmacht gegeben, und mir kommt es zu, über alles zu urteilen. Zu einem gerechten Richter gehören jedoch neun gute Dinge, Erstens, aufmerksam zuzuhören. Zweitens, das vorgebrachte zu erwägen und zu beurteilen.
Drittens der Wille, gerecht zu urteilen. Viertens, die Ursache zum Rechtsstreit zu erforschen. Fünftens, herauszufinden, wie lange Zeit der Streit schon erfolgt ist, denn durch Aufschieben des Gerichts kann ein schwerer Schaden entstehen. Sechstens zu ergründen, wie die Zeugen sind, sie zu verhören und zu untersuchen, ob sie übereinstimmen, sowie zu sehen, ob der eine der Streitenden mehr Zeugen als der andere hat.

Siebtens, im Gericht nicht übereilt oder ängstlich zu sein und keine Gewalt, Schaden oder Schande um der Wahrheit willen zu fürchten. Achtens, keine Rücksicht auf Bitten oder Geschenke von Menschen zu nehmen. Neuntens, unparteiisch im Urteilen zu sein, den Reichen ebenso wie den Armen zu beurteilen, den Bruder und den Sohn ebenso wie den Fremden, und nicht um irgendeines weltlichen Vorteils willen gegen die Wahrheit zu handelt. Sag nun, liebste Mutter, was du auf dem Herzen hast!“

Die Mutter erwiderte: „Zwei streiten miteinander. Sie haben zwei verschiedene Geister: In dem einen wohnt ein guter, in dem anderen ein böser Geist. Sie streiten um das, was du mit deinem Blut erkauft hast, der eine um zu töten, der andere, um Leben zu spenden. Bei dem einen wohnt Liebe und Gehorsam, bei dem anderen Hass und Hochmut. Fäll daher das Urteil!
Der Sohn fragte: „Wie viele Zeugen hat dein Freund, und wie viel hat der andere?“ Die Mutter erwiderte: „Mein Freund hat wenige, aber mein Gegner hat viele Zeugen, die wohl die Wahrheit kennen und es doch verschmähen, sie zu hören.“ Der Sohn antwortete: „Ich werde ein gutes Urteil fällen.“

Die Mutter sagte: „Mein Freund klagt nicht an, denn für ihn reicht es, nur seinen Körper zu erhalten, aber ich, die seine Herrscher in bin, erhebe Anklage, damit die Bosheit nicht überhand nimmt.“ Der Sohn antwortete: „Ich werde tun, was du willst. Aber wie du weißt, muss das leibliche Gericht dem geistlichen vorausgehen, und keiner darf verurteilt werden, wenn die Sünde nicht vollkommen ist.“

Die Mutter fragte: „Mein Sohn, obwohl wir alles wissen, frage ich doch um ihretwillen, die hier steht, welches leibliche und welches geistliche Urteil über diesen gefällt werden soll.“ Der Sohn erwiderte: „Das liebliche Urteil ist, dass seine Seele schleunigst vom Leibe getrennt wird, und dass seine Hand sein Tod sein wird. Das geistliche Urteil ist, dass seine Seele am Galgen der Hölle hängen soll, das nicht aus einem Strang besteht, sondern aus einem heißen, brennenden Feuer, denn er ist ein Schaf, das sich von seiner Herde verlaufen hat.“
Da sprach einer von den Mönchen Sankt Augustin’s mit dem Richter und sagte: „Herr, du hast nicht mit ihm gemeinsam. Du hast ihn zur letzten Ruhe gerufen, und er hat das vergessen; sein Gehorsam ist geschwunden, sein Name ausradiert, und seine Werke sind nichts.“

Der Richter sagte: „Seine Seele ist beim Gericht nicht anwesend, um zu antworten. Der Teufel fiel ein: „Ich will antworten. Wenn du ihn vor den Sturmwogen der Welt zur (letzten) Ruhe gerufen hast, so habe ich ihn vom höchsten Berggipfel in das tiefste Grab gerufen. Er ist ganz willig, mir zu gehorchen, und sein Name ist ehrenvoll vor mir.“
Der Richter sagte: „Erkläre näher, was du meinst! „Der Teufel erwiderte: „Das werde ich tun, aber ungern. Du hast ihn von den Sturmwogen der weltlichen Kümmernisse zur Ruhe des geistlichen Lebens wie zu einem guten Hafen gerufen, aber er hält das für nichts und sehnt sich mehr nach den weltlichen Sorgen. Der hohe Berggipfel bedeutet die aufrichtige Reue und Beichte. Der (Mensch), der diese vollkommen verwirklicht, der spricht mit dir, dem Allmächtigen, und naht sich deiner Majestät.

Von diesem höchsten Berggipfel stürze ich ihn herab, so dass er weiter bis zum Ende sündigt, die Sünde für nichts und deine Gerechtigkeit für nichtig hält. Die tiefe Gruft bezeichnet seine Schwelgerei und Gewinnsucht, denn wie ein tiefes Grab nicht leicht wieder gefüllt werden kann, so ist seine Gewinnsucht unermesslich.

Sein Name ist “Mönch“, und der Name „Mönch“ heißt, sich auch vom Zugelassenen zu bewahren und darauf zu verzichten, aber dies alles ist bei ihm ausgetilgt, und nun wird er Saul genannt. So wie Saul ist er vom Gehorsam abgewichen. Sein Gehorsam ist zerbrochen, denn wie die beiden Teile eines gespaltenen Baumes nicht wieder zusammengefügt werden können, weil der Baum morsch ist, so können auch die Sehnsucht nach dem Himmel und die Liebe zu Gott, die wie die beiden Teile und Vereinigungspunkte des Gehorsam sind, in seinem Gehorsam vereinigt werden, denn er gehorcht nur wegen des weltlichen Nutzens und wegen seines eigenen Willens, und seine Taten stimmen mit meinen überein.

Denn obwohl ich keine Messe lese oder singe, oder alles tue, was er tut, so führt er doch meine Werke aus, wenn er all das nach meinem Willen tut – ja sie können meine Taten genannt werden. Denn wenn er die Messe verrichtet, tritt er in seiner Vermessenheit vor dich hin, und auf Grund dieser Vermessenheit wird er noch mehr meiner Bosheit erfüllt. Er singt zum Lob der Menschen. Wenn ich ihm den Rücken kehre, wendet er mir seinen Rücken zu, und wenn ich will, wendet er seinen Bauch dem meinen zu, d.h. er vollendet seine ganze Lust nach meinem Willen, und alles, was er tut, das tut er für dieses Leben und für seinen eigenen Willen.
Deshalb sind seine Taten meine Taten.“

Danach zeigte sich dieselbe Seele blind und zitternd. Ein Neger folgt ihr, bis sie zum Richter gekommen waren, den man auf einem Thron sitzen sah, umgeben von einer großen Schar. Der Neger sagte: „Richter, weise mit diese Seele zu! Sie ist ja jetzt selbst anwesend, und das Urteil über ihren Leib hast du gefällt.“ Und der Neger fügte hinzu: „Du sagtest, dass seine Hand tot sein sollte, und das ist ein getroffen.“

Der Richter sagte: „Das kann man auf zwei Arten verstehen: Entweder so, dass eine schlechte Tat der Anlass zu seinem Tod war, oder so, dass seine leibliche Hand das Leben seines Leibes verkürzt hat.“ Der Neger erwiderte: „Beides ist wahr. Denn sein schamloses Leben hat seine Seele umgebracht, und seine Ungeduld öffnete die Wunde seines Fleisches, woran er starb.“

Der Richter sagte: „Du hast früher diese Seele angeklagt, weil sie in allem deinen Willen befolgte, damit du sie von dem höchsten Berggipfel herunterstürzen würdest, und sie dir ihren Bauch zukehrt. Lasst uns nun hören, was die Seele selber sagte: „O Seele, du hattest den Verstand, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Warum hast du da den ehrbaren Namen der Priesters unter deine Füße getreten?“
Die Seele erwiderte: „Ich hatte gewiss Verstand, aber ich folgte lieber meinem eigenen Willen, denn ich konnte nicht glauben, dass sich eine so große Macht unter einer so geringen Gestalt verbarg.“ Der Richter fragte weiter: „Du hast gewusst, dass die Durchführung des Klosterlebens Demut und Gehorsam ist. Warum hast du dich wie ein Wolf im Schafskleid angeschlichen?“ Die Seele erwiderte: „Damit ich die Schmach der Welt vermeiden, und ein ruhigeres Leben führen könnte.“

Der Richter stellte eine dritte Frage: „O Bruder, und doch nicht meiner – du hast das Beispiel frommer Brüder gesehen und hast die Worte heiliger Männer gehört; warum hast du diese nicht befolgt?“ Die Seele erwiderte: „All das Gute, was ich hörte und sah, war mir verhasst und mühsam, denn ich hatte in meinem Herzen beschlossen, lieber meinem Willen und meinen Sitten zu folgen, als den Sitten der Heiligen.“

Der Richter fragte zum vierten Mal: „Hast du wohl fleißig die Fastenzeiten, die Gebete und Beichten eingehalten?“ Die Seele erwiderte: „Ja, ich habe die Fasten und Gebete ausgeübt, aber ich habe das getan wie der, der das wenigste sagt, damit er gedeckt wäre, und das meiste verheimlicht, damit er kein Missfallen erregt.“

Der Richter fragte: „Hast du wohl nicht gelesen, dass jeder Mensch Rechenschaft über das kleinste Scherflein ablegen muss?“ Da brach die Seele in lauten Jammer aus: „Ja Herr, ich habe das gelesen und habe es in meinem Gewesen gewusst, aber ich glaubte, dass deine Barmherzigkeit so groß wäre, dass du nicht in Ewigkeit strafen willst. Daher war es mein Wille, im Alter Besserung zu üben, aber Schmerz und Tod kamen so hastig über mich, dass ich, als ich beichten wollte – das Gedächtnis verloren hatte und meine Zunge wie gefesselt war.“

Da rief der Teufel: „O Richter wie seltsam! Die Seele richtet sich selbst. Sie bekennt nun furchtlos ihre Sünde, und doch wage ich nicht, ohne dein Urteil meine Hand an sie zu legen.“ Der Richter sagte: „Das ist bereits getan und ausgeführt.“ Da verschwand der Neger und die Seele wie zusammengebunden und fuhren mit großem Donner in die Hölle.

Der Richter sagte zuletzt: „All dies ist in einem Augenblick geschehen, aber damit du das verstehen kannst, hat es sich gezeigt[1]…, damit du Gottes Gerechtigkeit siehst und kennen lernst und fürchtest.“

[1]. Har det visat sig såsom havande ägt rum i tiden; mir unverständlich.