11. Kapitel

Agnes spricht: „O Maria, du Mutter und Jungfrau über alle Jungfrauen, du kannst mit Recht die Morgenröte genannt werden, die von der wahren Sonne Jesus Christus beleuchtet wurde. Aber soll ich dich wegen deines königlichen Geschlechts, oder für Reichtümer oder Ehre Morgenröte nennen? Keineswegs. Nein, du magst mit Recht wegen deiner Demut, wegen deines Glaubenslichts oder wegen deines unvergleichlichen Keuschheitsgelübdes Morgenröte genannt werden.

Du hast nämlich die wahre Sonne angekündigt und sie hervorgebracht. Du bist die Freude der Gerechten, du vertreibst die Teufel, du bist der Trost der Sünder. Daher bitte ich dich um deiner Hochzeit willen, die Gott mit dir in dieser Stunde gefeiert hat, dass deine Tochter (Birgitta) in der Verehrung und Liebe deines Sohnes bleiben kann.“
Die Mutter Gottes antwortete: „Sag ihr, die dies hört, wie du dies Hochzeit auffasst!“ Agnes erwiderte: „Du bist in Wahrheit Mutter, Jungfrau und Ehefrau. Denn die schönste Hochzeit geschah in dir zu der Stunde, als Gott sich in dir mit der Menschlichkeit vereinigte, ohne dass seine Göttlichkeit Schaden litt oder vermindert wurde. So vereinigte sich auch die Jungfräulichkeit und die Mutterschaft, ohne dass die Reinheit der Jungfräulichkeit Schaden nahm, und du bist gleichzeitig Mutter und Tochter für deinen Schöpfer geworden.

Heute hast du ihn zeitlich geboren, der vom Vater ewig geboren war, und der mit dem Vater alles bewirkt hat. Der Heilige Geist war in dir, außerhalb von dir und um dich her, und er machte dich fruchtbar, als du dein Einverständnis gabst, Gottes Botin zu sein. Dieser Gottessohn, der heute von dir geboren wurde, war schon in dir, ehe sein Sendbote zu dir kam.
Sei deshalb barmherzig gegen deine Tochter. Sie ist nämlich wie eine arme Frau, die in einem Tal wohnte und nichts anderes hatte, als ein paar kleine lebende Dinge, wie Huhn oder Gans, aber sie hegte eine so große Liebe zu dem Herrn, der auf dem Berge oberhalb des Tales wohnte, dass sie diesem Herrn auf dem Berge aus Liebe all das Lebende anbot, was sie besaß.

Der Herr antwortete dieser Frau: „Ich habe Überfluss an allem, und ich brauche das nicht, was dir gehört, aber vielleicht machst du dieses kleine Geschenk aus dem Grunde, dass du ein größeres als Gegengabe erhältst.“ Sie antwortete ihm: „Ich biete es nicht dafür, dass du es gebrauchst, sondern dafür, weil du mich arme Frau an deinem Berge bauen und wohnen ließest, und dafür, dass ich von deinen Dienern geehrt worden bin. Ich biete dir nun das Wenige an, was meine Freude ist, damit du siehst, dass ich noch mehr tun würde, wenn ich könnte, und dass ich nicht undankbar für deine Gnade bin.“
Der Herr entgegnete: „Weil du mich mit einer so großen Liebe liebst, will ich dich auf meinen Berg hinaufnehmen und dir und den Deinen jedes Jahr Kleider und Essen geben.“ So ist deine Tochter nun beschaffen. Sie hat dir nämlich das einzig Lebendige gelassen, was sie hatte – d.h. die Liebe zur Welt und ihren Kindern. Deshalb kommt es deiner Milde zu, für sie zu sorgen.“

Die Mutter antwortete der Braut des Sohnes und sagte: „Tochter bleib standhaft! Ich werde meinen Sohn bitten, dass er dir jährlich Kost gibt und dich auf den Berg erhebt, wo ihm tausend und abertausend Engel dienen. Denn wenn man alle Menschen rechnet, die von Adem bis zu dem letzten Menschen am Ende der Welt geboren sind, würde man mehr als zehn Engel für jeden Menschen finden.
Die Welt ist gewiss nichts anderem gleich, als einem Topf. Das Feuer und die Asche unter dem Topf – das sind die Freunde der Welt, während die Freunde Gottes so wie das köstliche Essen im Topf sind. Wenn der Tisch gedeckt ist, soll das köstliche Essen dem Herrn dargebracht werden, und er wird davon auch etwas kosten. Der Topf wird zerbrochen werden, aber das Feuer soll doch nicht verlöschen.“