111. Kapitel

Der Sohn spricht zur Braut und sagt: „Es gibt drei Gesetze. Das erste ist das der Kirche, das zweite das des Kaisers, das dritte das des Volkes. All diese Gesetze werden auf die Haut von toten Tieren (d.h. auf Pergament) geschrieben. Aber es gibt noch ein anderes Gesetz, ein geistliches Gesetz, das nicht auf Pergament geschrieben wird, sondern im Buch des Lebens, das nie verloren geht oder durch Alter verzehrt wird, niemals zum Überdruss führt und das man nie mit Schwierigkeiten besitzt.

Jedes gute Gesetz muss auf die Erlösung der Menschenseele gerichtet sein, und darauf, dass Gottes Gebot beachtet wird, dass man die schlechten Begierden flieht und nach den guten Taten trachtet – nach diesen muss man in kluger Weise trachten. Aber nun gibt es in dem Gesetz, das auf Pergament geschrieben wird, das davon handelt, etwas zu erhalten. Dafür, dass jemand etwas erhält, ist eins von diesen vier Dingen notwendig. Entweder soll eine Gabe jemanden geschenkt werden, um Liebe und Freundschaft zu beweisen, oder es mag durch Erbe oder durch Verteilung gegeben werden, oder als Belohnung für demütig vollbrachten Dienst.
Ebenso verhält es sich mit dem geistlichen Gesetz, denn das geistliche Gesetz besteht darin, Gott zu verstehen und zu lieben und sich bei ihm Wohlzufühlen, und in diesem Gesetz liegt Ehre und geistliche Reichtümer, nämlich alles Geschaffene gegen den Schöpfer einzutauschen, den eigenen Willen Gott zu übergeben, die Tugenden zu lieben und der Welt für das Himmelreich zu entsagen.

Diese Reichtümer werden auf vierfache Weise gewonnen. Erstens durch Liebe. Denn wie ein irdischer Herr jemandem aus Liebe Geschenke macht, ohne dass der Empfänger es verdient hat, so habe ich in meiner Güte den Menschen geschaffen und erlöst und habe Tag für Tag mit ihm Geduld; trotz seiner Undankbarkeit erweise ich ihm Ehre. Dazu soll der, der mich von ganzem Herzen liebt und nichts begehrt außer mir, auf Erden die Tugend gewinnen, die mit Gottes Finger im Herzen geschrieben steht, und im Himmel die Ehre, die im Buch des Lebens geschrieben steht, nämlich das ewige Leben.

Zweitens wird geistliche Ehre durch Erbe erworben. Ich habe ja dadurch, dass ich Menschengestalt angenommen habe und durch mein Leiden dem Menschen das Himmelreich erkauft und habe es ihm mit Erbrecht aufgelassen. Denn wie der Mensch sozusagen sein göttliches Erbrecht dem Teufel verkauft hat und als Ersatz einen kleinen Apfel gegen die ewige Freude bekommen hat, eine verbotene Speise anstatt des Lebensbaumes und Falschheit statt Wahrheit, so habe ich im Gehorsam gegenüber meinem Vater die Schrift des Ungehorsams zerrissen; durch die bittere Pein meines Herzens habe ich die Süßigkeit des Apfels aufgewogen, durch meinen Tod habe ich dem Menschen den Baum des Lebens erworben, und durch den Glauben an meinen Menschwerdung habe ich den Menschen zurückgebracht und alle Wahrheit gestiftet.

Daher soll ein jeder, der dem Wort meiner Wahrheit glaubt und mir nachfolgt, durch Erbrecht geistliche Reichtümer und meine Gnade gewinnen. Drittens erhält man geistliche Ehre durch einen Wechsel, d.h. wenn der Mensch sich von all den Vergnügen trennt, die fleischliche Lust schenkt, und die Wollust des Fleisches gegen Enthaltsamkeit eintauscht, Reichtümer gegen Armut, Ehre gegen Schmähung, irdische Verwandte gegen den Umgang mit Gottes Freunden und das Betrachten der Welt gegen das Schauen Gottes.

Viertens erwirbt man geistliche Ehre auf Grund von demütig geleistetem Dienst, d.h. wenn der Mensch geduldig im Dienste Gottes streitet, wie ein tapferer Ritter im Krieg, in Demut und Treue wie ein treuer Diener dient, das ihm Anvertraute barmherzig und gerecht beschützt wie ein guter Verwalter, und wie ein guter Wächter auf Wacht gegen die Versuchungen steht. Ein solcher Mensch ist würdig, die Ehre und die geistlichen Reichtümer zu besitzen, die nicht auf Pergament geschrieben sind, sondern in die Seele. Denn wie das dreifach geschriebene Gesetz dazu dient, die Gerechtigkeit zu vervollkommnen, so dient das geistliche Gesetz dazu, Frucht zu bringen.

Also, meine Tochter, strebe danach, die geistliche Ehre durch Liebe zu gewinnen, indem du nichts so sehr liebst wie mich, durch das Erbe, indem du fest an all das glaubst, was die Kirche anbietet, durch Werke der Demut, indem du alles um meiner Ehre willen tust. Du bist ja in mein Gesetz berufen, und deshalb musst du mein Gesetz auch halten. Aber mein Gesetz besteht darin, nach meinem Willen zu leben. Denn wie ein guter Priester nach dem Gesetz der Kirche lebt, so sollst du nach meinem Gesetz der Demut leben und dich nach meinen Freunden gestalten. Jedes zeitliche Gesetz ist ja teils auf die Ehre der Welt ausgerichtet, teils darauf, sie zu verschmähen. Mein Gesetz ist dagegen nur auf das Himmlische ausgerichtet, denn vor mir und nach mir hat niemand voll verstanden, wie und wie ehrenreich die Lieblichkeit des Himmels ist, nein – niemand mehr als ich und der, dem ich es habe offenbaren wollen.“