15. Kapitel

Gottes Sohn spricht: „Du möchtest wissen, warum du hörtest, dass Gottes ehrenwerter Freund von Trübsal heimgesucht wird, aber Gottes Feind, von dem du glaubtest, dass er geplagt werden müsste, geehrt wird, wie es dir in einer anderen göttlichen Vision gesagt wurde. Ich antworte dir: Meine Worte sind sowohl geistlich als auch körperlich zu verstehen. Was ist weltliche Trübsal anders, wenn nicht eine Vorbereitung und eine Erhöhung zur Krone? Und was ist weltliches Glück für den Mann, der die Gnade missbraucht, wenn nicht ein Niedersteigen zum Verderben? So enthalten Trübsale auf Erden eine wahre Erhöhung zum Leben, aber auf der Welt Erfolgt zu haben, bedeutet für einen ungerechten Menschen ein wirkliches Niedersteigen zur Hölle.

Daher will ich dir, um deine Geduld mit dem Lernen von Gottes Wort zu stärken, ein Gleichnis sagen. Er war eine Mutter, die zwei Söhne hatte. Der eine war in einem dunklen Gefängnis geboren und hatte nichts anderes gesehen oder gekannt, als Dunkelheit und Muttermilch. Der andere dagegen war in einer kleinen Stube geboren, aß menschliche Kost, ruhte in einem Bett und wurde von einer Amme bedient.
Zu dem, der im Gefängnis geboren war, sagte die Mutter: „Mein Sohn, wenn du aus dem Gefängnis herauskommen willst, wirst du eine bessere Kost, ein weicheres Bett und einen sichereren Aufenthaltsort bekommen.“

Als der Knabe das hörte, ging er hinaus, denn wenn die Mutter ihm noch höhere Dinge versprochen hätte, wie gute Pferde, ein Elfenbeinhaus oder eine große Dienerschaft versprochen hätte, hätte er das nicht geglaubt – er kannte ja nur das Dunkel und die Muttermilch. So verspricht auch Gott manchmal kleine Dinge, womit er größere Dinge meint, damit der Mensch durch das Zeitliche lernen soll, an das Himmlische zu denken.

Zu dem anderen Sohn sagte die Mutter dagegen: „Mein Sohn, was nützt es dir, in dieser elenden Hütte zu wohnen? Höre auf meinen Rat, denn das wird dir zum Nutzen dienen! Ich kenne zwei Städte. In der einen haben die Einwohner unendliche und unaussprechliche Freude sowie Ehren ohne Grenze. In der anderen haben Kämpfer Gefechtsübungen. Alle, die dort kämpfen, werden Könige, und alle, die besiegt werden, siegen trotzdem.“

Der Knabe hörte das und ging hinaus auf den Kampfplatz. Er kam zurück nach Hause und sagte zur Mutter: „Ich habe auf dem Kampfplatz ein seltsames Spiel gesehen. Manche wurden zu Boden geworfen und niedergetrampelt, wurden ihrer Kleider beraubt und verwundet, schwiegen alle und spielten weiter, und keiner hob den Kopf oder die Hand gegen die, die ihn niederschlugen.“

Die Mutter antwortete: „Die Stadt, die du gesehen hast, ist nur eine Vorstadt zur Ehrenstadt. In dieser Vorstadt will der Herr herausfinden, welche geeignet sind, die Stadt der Ehre zu betreten. Den, von dem er sieht, dass er der Tapferste im Streit war, wird er am ehrenvollsten in Herrlichkeit krönen. Deshalb gibt es in dieser Stadt solche, die die prüfen sollen, die in Herrlichkeit gekrönt werden sollen. Du sahst, wie die Niedergeworfenen ihrer Kleider beraubt wurden, verwundet wurden und doch schwiegen, und das geschah deshalb, weil unsere Kleider in unserer dunklen Hütte beschmutzt wurden. Damit sie rein werden, ist ein großer Kampf und Mühe vonnöten.“

Der Knabe erwiderte: „Es ist schwer, niedergeworfen zu werden und doch zu schweigen; es scheint mir besser, in meine Hütte zurückzukehren.“ Die Mutter sagte zu ihm: „Wenn du in unserer Hütte bleibst, werden in unserer Dunkelheit und unserem Schmutz Würmer und Schlangen gedeihen; du wirst entsetzt sein, ihre Laute zu hören; ihr Biss wird all deine Kraft zunichte machen, und ihre Gesellschaft wird dich wünschen lassen, dass du nie geboren bist.“

Der Junge hörte das und begehrte ein körperliches Gut, obwohl die Mutter das in geistlicher Weise gemeint hatte; er wurde immer mutiger, und Tag für Tag wuchs seine Sehnsucht, die Krone zu gewinnen.
So handelt auch Gott. Denn er verspricht und beschert zuweilen zeitliche Dinge. Ja er verspricht fleischliche Dinge, womit er geistliche meint, damit die Seele durch die empfangenen Gaben zu göttlichem Eifer erweckt wird und sich durch das Geistliche Verständnis demütigt, so dass sie nicht eingebildet und vermessen wird.

So handelte Gott mit den Kindern Israel. Denn erst versprach er und gab ihnen zeitliche Dinge, und er tat mit ihnen auch Wundertaten, damit sie dadurch unterwiesen würden und das Unsichtbare und Geistliche verstehen sollten. Nachdem ihr Verstand eine größere Erkenntnis über die Gottheit erlangt hatte, redete Gott durch die Propheten dunkel und schwer begreifliche Worte und mischte ein paar tröstende und freudenreiche darunter, indem er dem Volk versprach, dass sie in ihr Vaterland zurückkehren und einen ewigen Frieden genießen sollten, und dass sie das Zerstörte wieder aufbauen sollten.

Obwohl das Volk dies fleischlich verstand und all das Versprochene in fleischlicher Weise haben wollte, wusste und bestimmte doch Gott im voraus, dass manches in fleischlicher Weise, manches in geistlicher Weise vollendet werden sollte.
Aber nun magst du fragen: „Warum hat Gott, dem alle Zeiten und Stunden bekannt sind, nicht deutlich und rechtzeitig alles vorausgesagt, und warum hat er manchmal eins gesagt, und etwas anderes gemeint?“ Ich will dir antworten. Israels Volk war fleischlich eingestellt, begehrte nur das Fleischliche und konnte das Unsichtbare nur durch das Sichtbare verstehen.

Daher hat es Gott gefallen, sein Volk auf vielerlei Weise zu unterrichten, so dass die, die seinen Verheißungen glaubten, ihres Glaubens wegen desto ehrenvoller gekrönt würden, die, die Fortschritte im Guten gemacht haben, desto eifriger werden sollten, die Trägen von einem desto größeren Eifer für Gott entzündet würden, die Übertreter aufhören, noch mehr zu sündigen, die Beladenen ihre Mühsale geduldiger tragen, die Werktätigen froher aushalten und die Wartenden desto ehrenvoller gekrönt werden, damit sie an dem dunkeln Versprechen festhalten.

Denn wenn Gott den fleischlich gesinnten nur geistliche Dinge versprochen hätte, so wären sie alle in ihrer Liebe zum Himmlischen müde geworden. Und wenn er nur fleischliche Dinge versprochen hätte, was für ein Unterschied wäre es dann zwischen Mensch und Tier gewesen? Aber damit der sterbliche Mensch seinen Leib richtig lenken und beherrschen soll, schenkte der milde und weise Gott ihm körperliche Dinge. Damit er nach dem Himmlischen trachten soll, zeigte er Wohltaten und himmlische Wunderwerke; damit er fürchten soll, zu sündigen, zeigte er seine schrecklichen Gerichte und Eingebungen durch böse Engel.

Und damit der Erheller der Versprechen und Geber der Weisheit besänftigt werden soll und man sich nach ihm sehnt, vermischte er dunkle und verwirrende Dinge mit den tröstlichen.
So zeigt Gott noch heute geistliche Zeichen durch körperliche Gleichnisse, und wenn er von zeitlicher Ehre spricht, meint er geistliche, damit alle Kunst des Unterrichtens Gott allein zuerkannt werde. Denn was ist weltliche Ehre anderes als Wind, Mühe und Verminderung der Freude an Gott? Was ist Trübsal anderes, als eine Übung in Tugend? Und dem Gerechten weltliche Ehre zu versprechen, was ist es anderes, wenn nicht, ein geistliches Gut zu verhindern? Weltliche Trübsal zu versprechen, was ist das, wenn nicht ein Heilmittel gegen eine Schwere Krankheit?

Deshalb, meine Tochter, können Gottes Worte in verschiedener Weise verstanden werden, aber man kann deswegen doch keine Veränderlichkeit bei Gott erkennen, sondern seine Weisheit mag bewundert und gefürchtet werden. Denn so wie ich durch die Propheten viele Dinge auf körperliche Weise gesagt habe, die auch körperlich in Erfüllung gingen, so habe ich auch vieles in körperlicher Weise gesagt, was auf geistliche Weise erfüllt wurde oder zu verstehen ist. So handele ich auch jetzt, und wenn diese Dinge geschehen, werde ich dir ihre Ursachen erzählen.“