58. Kapitel

Der Sohn (Jesus Christus) spricht: „Ich bin wie ein Herr, der in dem Lande treu gekämpft hat, wohin er zur Wallfahrt gezogen ist, und mit Freunden in sein Vaterland zurückkehrte. Dieser Herr besaß einen sehr kostbaren Schatz. Indem er ihn betrachtete, wurde seine Augen hell entflammt, wurden Traurige getröstet und wurden Kranke genesen, und Tote wurden in seinem Beisein auferweckt.

Damit der Schatz ehrenvoll und sicher verwahrt werden sollte, wurde ein herrliches, prachtvolles Haus gebaut und vollendet, das eine stattliche Höhe und sieben Treppen hatte, auf denen man zum Hause und dem Schatz aufstieg. Der Hausherr überließ diesen Schatz seinen Dienern, um ihn zu betrachten und zu betreuen, damit er sicher und hübsch verwahrt würde, so dass die Liebe des Hausherrn zu seinen Dienern und die Treue der Diener gegen ihren Herrn gesehen werden sollte.
Die Zeit verging. Der Schatz begann verachtet zu werden, das Haus wurde nur noch selten aufgesucht, die Wächter wurden lau und gleichgültig, und die Liebe des Hausherrn geriet in Vergessenheit. Der Hausherr beratschlagte mit seinen vertrauten Freunden, wie man einer solchen Undankbarkeit begegnen solle.

Einer von ihnen antwortete: „Es steht geschrieben, dass die Richter und Wächter des Volkes, wenn sie säumig sind, im Sonnen schein gehenkt werden sollen. Aber dir gehören die Barmherzigkeit und das Gericht; du schonst alle, denn alles ist dein, und du erbarmst dich über alle.“
Ich bin dieser Herr, von dem das Gleichnis erzählt. In meiner Menschengestalt trat ich als Pilger auf Erden auf, während ich doch in meiner Göttlichkeit im Himmel und auf Erden mächtig war. Aus Eifer für die Rettung der Seelen habe ich auf Erden einen so schweren Kampf ausgestanden, dass alle Sehen in meinen Händen und Füßen zerrissen.

Als ich die Welt verließ und zum Himmel auffuhr, von dem ich doch in göttlicher Weise nie entfernt war, gab ich der Welt das alleredelste Gedenken, nämlich meinen hochheiligen Leib. Wie das alte Gesetz sich der Arche rühmen konnte, des Mannes, der Gesetzestafeln und verschiedener Hochzeitsbräuche, so sollte sich der neue Mensch über das neue Gesetz freuen – nicht wie früher über einen Schatten, sondern über die Wahrheit, d.h. über meinen gekreuzigten Leib, der sein Vorbild im Gesetz hatte.

Damit mein Leib in Ehren gehalten werden sollte, richtete ich ein Haus ein, d.h. die heiligen Kirche; dort sollte er verwahrt und benutzt werden. Zu seinen Wächtern bestimmte ich die Priester, die im Amt noch über den Engeln stehen, denn ihn, den die Engel in ihrer Verehrung fürchten und berühren, den berühren die Priester mit den Händen und dem Mund.
Ich habe auch die Priester mit einer siebenfachen Ehre geehrt, das wird mit den sieben Treppen angedeutet. Erstens sollten sie meine Bannerträger und durch die Reinheit des Sinnes und des Leibes meine besonderen Freunde sein, denn die Reinheit nimmt den ersten Platz bei Gott ein; ihm darf kein Befleckter nahen.

Wenn den Priester im alten Bund erlaubt wurde, in der Zeit, da sei nicht opferten, wie Verheiratete zu leben, so war dies nicht verwunderlich, denn sie hatten nur die Schale, nicht den Kern der Nuss. Aber da nun die Wahrheit gekommen ist und die früheren Bilder gewichen sind, muss man sich auch im höchsten Grad um seine Reinheit bemühen, umso mehr, als ja der Nusskern so viel süßer als die Schale ist. Zum Zeichen für diese Enthaltsamkeit lassen sich die Kleriker ihre Tonsur schneiden, so dass die Last nicht Herr über ihre Seele oder ihr Fleisch wird.

Auf der zweiten Treppe werden die Kleriker so geformt, in aller Demut wie Engel zu werden, denn durch die Demut der Sinne und des Leibes gewinnt man Eintritt in den Himmel und bändigt den hochmütigen Teufel. Zum Zeichen dafür wird den Klerikern verordnet, Dämonen auszutreiben, denn der demütige Mensch wird zum Himmel erhoben, von dem der arrogante Teufel durch seinen Übermut herabgefallen ist.

Auf der dritten Treppe wird den Klerikern befohlen, durch ihr ständiges Lesen der heiligen Schriften Gottes Schüler zu sein. Dafür legt der Bischof ihnen ein Buch in die Hände, wie der Ritter ein Schwert erhält, damit sie wissen, was sie tun sollen, nämlich durch Gebet und Betrachtung zu versuchen, Gottes Zorn auf sein Volk abzuwenden.
Auf der vierten Treppe werden die Kleriker zu Wächtern von Gottes Tempeln und zu Leitern der Seelen eingesetzt. Deshalb gibt der Bischof ihnen Schlüssel, damit sie Sorge um die Errettung ihrer Brüder tragen und sie durch Wort und Beispiel die, die schwach sind, dazu bringen, vollkommener zu werden.

Auf der fünften Treppe werden sie zu Aufsehern und Betreuern des Alters bestimmt, so dass sie, nachdem sie dem Altere dienen, von dem leben können, was zum Alter gehört, und sich nie mit irdischen Dingen befassen, außer wenn dies ihr Amt erfordert.
Auf der sechsten Treppe werden sie bestimmt, apostolische Männer zu sein, die evangelische Wahrheit zu verkünden und ihre Sitten in Übereinstimmung mit ihrer Verkündigung zu bringen.

Auf der siebenten Treppe werden sie eingesetzt, Mittler zwischen Gott und den Menschen zu sein, indem sie meinen Leib opfern: Dieser Auftrag hilft den Priestern sozusagen zu mehr Würde als den Engeln.
Aber jetzt klage ich darüber, dass diese Treppen zerbrochen sind, denn man liebt den Hochmut statt der Demut, die Unreinheit anstatt der Reinheit, die Lesungen des Gotteswortes beachtet man nicht mehr, sondern stattdessen das Buch der Welt. Die Altäre sehen verlassen aus. Gottes Weisheit wird als Dummheit angesehen, um das Wohler gehen der Seelen kümmert man sich nicht.

Und damit nicht genug – sie werfen meine Kleider weg und vernichten meine Waffen. Auf dem Berge habe ich Mose gezeigt, welche Gewänder von den Priestern des Alten Bundes getragen werden sollten. In Gottes himmlischer Wohnung gibt es gewiss nicht irgendetwas Materielles, aber das Geistliche kann nur durch körperliche Gleichnisse erfasst werden, und deshalb zeigt sich auch das Geistige in körperliche Form, damit man wissen sollte, welch große Ehrfurcht und Reinheit die beachten sollten, die selbst die Wahrheit besitzen – nämlich meinen Leib. Denn die, die die schattenhaften Vorbilder verwaltet haben, haben eine so große Reinheit und Ehrfurcht gehabt.

Aber warum habe ich Mose eine solche Kleiderpracht gezeigt? Doch dafür, dass der Schmuck und die Schönheit der Seele dadurch gelehrt und gezeigt werden sollen. Denn wie es sieben Gewänder des Priesters gibt, so soll die Seele, die zu Gottes Leib hintritt, sieben Tugenden besitzen, ohne die es keine Erlösung gibt. Das erste Kleidungsstück der Seele ist Reue und Beichte. Damit wird das Haupt bedeckt.

Das zweite ist das Verlangen nach Gott sowie Keuschheit. Das dritte ist die Arbeit zu Gottes Ehre und Geduld in Widrigkeiten. Das vierte besteht darin, nicht am Lob oder Tadel der Menschen zu hängen, sondern nur an Gottes Ehre. Das fünfte ist die Enthaltsamkeit des Fleisches sowie aufrichtige Demut. Das sechste ist das Nachdenken über Gottes Wohltaten und die Furcht vor seinen Gerichten. Das siebente besteht darin, Gott über alles zu lieben und in dem Guten fortzufahren, das man begonnen hat.

Jetzt sind aber diese Kleider abgelegt und verachtet. Anstatt zu beichten, möchte man die Sünde gern entschuldigen und sie für leicht ansehen, an Stelle von Keuschheit liebt man ein loses Leben, an Stelle von Arbeit zum Wohl der Seele Arbeit zum Wohl des Leibes, statt Gottes Ehre liebt man weltliche Ehrsucht und Hoffart, statt preiswerter Sparsamkeit Überfluss an allem, an Stelle von Gottesfurcht vermessene Geringachtung von Gottes Gerichten. Statt Gott über alle Dinge zu lieben, zeigen die Priester eine grenzenlose Undankbarkeit. Deshalb werde ich sie mit meinem Zorn heimsuchen, wie ich durch den Propheten gesagt habe, und die Heimsuchungen werden ihnen Verstand verleihen.“

Da sagte die Mutter der Barmherzigkeit, die dabei war: „Gesegnet seist du, mein Sohn, für deine Gerechtigkeit! Zu dir, der alles weiß, spreche ich wegen dieser deiner Braut. Du willst ja, dass sie das Geistliche verstehen soll, und das kann sie nur durch Gleichnisse erfassen. Ehe du durch mich Menschengestalt annahmst, sagtest du in deiner Göttlichkeit, dass du – wenn du zehn gerechte Männer in der Stadt finden könntest, dich um ihretwillen über die ganze Stadt erbarmen würdest.

Aber jetzt gibt es unzählige Priester, die dich durch das Opfern Deines Leibes besänftigen. Um deretwillen solltest du dich also über die erbarmen, die sich nur auf wenig Gutes berufen können. Darum bitte ich dich, die dich in deiner Menschengestalt geboren hat, und all deine Auserwählten bitten dich mit mir darum.“

Der Sohn erwiderte: „Gesegnet seist du, und gesegnet seien die Worte deines Mundes! Du siehst, dass ich sie in dreifacher Weise auf Grund eines dreifachen Gutes schone, das im Opfer meines Leibes liegt. So wie der freche Übergriff des Judas bewirkte, dass drei gute Dinge bei mir zutage traten, so kommen den Seelen durch die Darbringung dieses Opfers drei Dinge zugute.

Erstens ging meine bewundernswerte Geduld daraus hervor, dass ich – obwohl ich wusste, dass Judas mich verraten wollte – ihn nicht aus meiner Gesellschaft verstieß. Zweitens zeigte ich meine Macht, als der Verräter und alle, die bei ihm waren, auf ein einziges Wort von mir zu Boden fielen. Drittens offenbarte sich die göttliche Weisheit und Liebe, als ich seine Bosheit und die des Teufels in die Erlösung der Seelen umwandelte.

In der selben Weise kommen durch das Opfer der Priester drei gute Dinge. Erstens wird von der ganzen Heerschar des Himmels meine Geduld gepriesen, dass ich in den Händen eines guten und schlechten Priesters derselbe bin. Ich achte ja nicht auf die Person, und es sind keine Verdienste der Menschen, die dieses Sakrament bewirken, sondern meine Worte.

Zweitens nützt dieses Opfer allen, von welchem Priester es auch dargebracht wird. Drittes kommt es auch den Opfernden selbst zugute, wie schlechte sie auch sein mögen, denn wie meine Feinde bei einem einzigen Wort, das ich sagte, „Ich bin’s!“ körperlich zu Boden fielen, so fliehen auch die Teufel mit ihren Versuchungen von den Seelen der Opfernden, wenn meine Worte „Das ist mein Leib“ ausgesprochen werden, und sie wagen auch nicht, sie so heftig zu versuchen, sofern die Opfernden nicht wieder sündigen möchten.

So schont meine Barmherzigkeit alle und erträgt alles, aber meine Gerechtigkeit ruft doch nach Rache. Ja, sie ruft täglich, aber du siehst sehr gut, wie viele es sind, die mir Antwort geben. Doch werde ich noch weiter Worte meines Mundes aussenden, und die, die darauf hören, sollen ihre Tage in einer Freude beschließen, die so leiblich ist, dass sie weder ausgesprochen noch zu denken ist.
Aber die, die nicht darauf hören, die werden, wie geschrieben ist, sieben Plagen in der Seele und sieben am Körper erfahren. Sie werden sie erleben, wenn sie lesen und bedenken, was geschehen ist, damit sie nicht überrascht werden, wenn sie sie erfahren.“