7. Kapitel

Ein Mensch, der im Gebet wachte und nicht schlief, dachte, er sähe in einer geistlichen Vision einen Palast von unermesslicher Größe. Da gab es unzählige Geschöpfe, in weiße, glänzende Kleider gekleidet, und ein jedes von ihnen hatte seinen eigenen Sitz. Ganz vorn im Palast stand ein Richterstuhl, und es sah aus, als würde dort eine Sonne sitzen. Der Glanz der von der Sonne ausstrahlte, war unermesslich lang, tief und breit. Eine Jungfrau, die eine kostbare Krone auf dem Kopf hatte, stand neben dem thron. Und alle dienten der Sonne, die auf dem Richterstuhl saß, und huldigten ihr mit Hymnen und Lobgesängen.

Dann sah er einen Neger, schrecklich an Aussehen und Gebärden. Er schien voller Neid zu sein und war von großem Zorn erfüllt, und er rief: „Du gerechter Richter, verurteile meine Seele und höre ihre Taten! Es bleibt nämlich nur noch wenig von ihrem Leben übrig. Erlaube mir auch, den Körper mit der Seele zu strafen, bis sie voneinander getrennt werden!“
Danach konnte ich sehen, dass einer vor dem Richterstuhl stand, der wie ein bewaffneter Ritter aussah. Er war ehrbar und weise in seiner Rede und besonnen und mild in seinen Gebärden.

Er sagte: „O Richter, sieh hier die guten Werke, die er bis zu dieser Stunde getan hat!“ Gleich hörte man eine Stimme von der Sonne auf dem Richterstuhl: „Hier ist die Last größer als die Tugend. Es ist nicht gerecht, dass die Last mit der höchsten Tugend vereinigt wird.“
Der Neger antwortete: „Es ist gerecht, dass diese Seele mein wird. Denn wenn sie etwas Lasterhaftes in sich hätte, so gibt es bei mir alles Schlechte.“ Der Richter entgegnete: „Gottes Barmherzigkeit folgt jedem Menschen bis zum Tode, ja bis zum letzten Augenblick, und dann steht das Gericht bevor. Aber bei dem Mann, von dem wir jetzt sprechen, sind Seele und Körper noch vereint, und er hat die Auffassungsgabe noch.“

Der Neger fiel ein: „Die Schrift, die nicht lügen kann, sagt: „Du sollst deinen Gott über alles lieben, und deinen nächsten wie dich selbst.“ Aber dieser Mann tat alle seine Werke aus Furcht und nicht aus Liebe, wie er sollte. Du wirst auch feststellen, dass er wenig Reue über die Sünden hatte, die er gebeichtet hat. Das Himmelreich hat er nicht verdient; folglich hat er die Hölle verdient. Seine Sünden sind hier vor der göttlichen Gerechtigkeit offenbart, weil er noch nie eine von Gottesliebe eingegebene Reue über die Sünden gespürt hat, die er begangen hat.“

Der Ritter wandte ein: „Ja, ich habe gehofft und geglaubt, dass er vor seinem Tode noch wahre Reue spüren würde.“ Der Neger antwortete ihm: „Du hast all die guten Taten gesammelt, die er getan hat, und du kennst all die Worte und Gedanken, die zur Rettung seiner Seele dienen können. All dies, wie es auch sein mag, ist nicht mit der Gnadengabe zu vergleichen, die aus einer Reue besteht, die aus Gottesliebe eingegeben und mit Glauben und Hoffnung verbunden ist; noch weniger kann es alle seine Sünden auslöschen.

Denn Gott ist von Ewigkeit her so gerecht, dass kein Sünder, der keine vollkommene Reue empfunden hat, ins Himmelreich eintreten darf. Es ist unmöglich, dass Gott gerade gegen die Ordnung richtet, die seit ewigen Zeiten in seinem Vorherwissen beschlossen ist. Also muss diese Seele zur Hölle verurteilt und mit mir vereinigt werden, um ewig gepeinigt zu werden.“ Bei diesen Worten schwieg der Ritter und erwiderte nichts.

Dann erschienen unzählige Teufel, wie Funken, die aus einem brennenden Ofen aufflogen; sie riefen mit einer Stimme und sagten zu dem, der wie die Sonne auf dem Richterstuhl saß: „Wir wissen, dass du ein Gott in drei Personen bist, dass du von Anfang an da warst und ohne Ende sein wirst, und dass es keinen anderen Gott gibt, als dich. Du bist wahrhaftig die Liebe selbst, mit der Barmherzigkeit und Gerechtigkeit vereint sind. Du ruhtest von Anfang an in dir selbst, ganz unvermindert und unveränderlich, wie es Gott gebührt. Ohne dich ist nichts, und es gibt nichts, das außer dir eine Freude hat.

Deine Liebe hat auch die Engel aus nichts anderem, als durch die Macht deiner Gottheit geschaffen, und du hast so gehandelt, wie die Barmherzigkeit es vorschrieb. Aber da wir in unserem Inneren von Hochmut, neid und Gier beseelt sind, hat uns deine Liebe, die Gerechtigkeit liebte, mit dem Feuer unserer Bosheit aus dem Himmel hinunter in eine dunkel unermessliche Tiefe verstoßen, die jetzt Hölle genannt wird. So hat deine Liebe damals gehandelt, und die soll auch jetzt nicht von deinem gerechten Gericht getrennt sein, ob das nach der Barmherzigkeit oder nach Gerechtigkeit geschieht.

Wir sagen noch mehr: Wenn das, was du mehr als alles geliebt hast, nämlich die Jungfrau, die dich geboren hat und die nie gesündigt hat, wenn sie eine Todsünde begangen hätte und ohne göttliche Reue gestorben wäre – so wäre ihre Seele nie in den Himmel gekommen, sondern wäre bei uns in der Hölle geblieben; so liebst du die Gerechtigkeit. Deshalb, o Richter, warum sprichst du uns nicht diese Seele zu, so dass wir sie nach ihren Taten strafen dürfen?“
Da ertönte ein Laut wie von einer Posaune, und die es hörten, verstummten.

Eine Stimme sprach: „Schweigt still, ihr Engel, Seelen und Dämonen alle, und hört zu, was Gottes Mutter sagt!“ Gleich zeigte sich die Jungfrau vor dem Richterstuhl, und unter ihrem Mantel schien sie ein paar große Gegenstände zu verbergen. Sie sagte: „Ihr Feinde, ihr verfolgt die Barmherzigkeit, und mit keiner Liebe liebt ihr die Gerechtigkeit. Wenn auch diese Seele einen Mangel an guten Taten aufweist, was bewirkt, dass sie nicht in den Himmel kommen sollte, so schaut aber, was ich unter meinem Mantel habe!“

Als die Jungfrau beide Mantelschöße aufhob, erschien unter dem einen etwas wie eine kleine Kirche, in der sich einige Mönche befanden, und unter dem anderen Frauen und Männer, Ordensleute und andere. Und sie riefen alle mit lauter Stimme und sagten: „Erbarme dich, gnadenreicher Gott!“
Dann wurde es still, und die Jungfrau redete und sagte: „Die Schrift sagt: „Wer einen vollkommenen Glauben hat, kann damit Berge auf der Welt versetzen.“ Was können und müssen dann nicht die Stimme derer tun, die Glauben hatten und Gott mit brennender Liebe gedient haben?

Was sollten nicht auch die Freunde Gottes tun, die er gebeten hat, Fürbitte für ihn zu leisten, so dass er der Hölle entgehen und in den Himmel kommen kann, und der keinen anderen Lohn für seine guten Taten begehrte, als das Himmelreich? Sollen nicht alle ihre Tränen und Gebete ihn ergreifen und erheben, so dass er noch vor seinem Tode eine gottgegebene Reue und zugleich Lieb empfindet? Ich werde auch meine eigenen Gebete und die Bitten all der Heiligen hinzufügen, die es im Himmel gibt, und denen er besondere Ehre erwiesen hat.

Die Jungfrau fügte hinzu: „Dämonen, ich befehle euch mit der Macht des Richters, darauf Acht zu geben, was ihr jetzt an Gerechtigkeit seht!“ Da antworteten sie alle wie aus einem Munde: „Wir sehen, dass auf Erden Gottes Zorn durch ein wenig Wasser und großes Wetter besänftigt wird. So bewegt auch dein Gebet Gott zu Barmherzigkeit und Liebe.“ Dann hörte man von der Sonne eine Stimme, die sagte: „Auf die Gebete meiner Freunde hin soll dieser Mann noch vor seinem Tode göttliche Reue empfinden. Er soll also nicht in der Hölle landen, sondern zusammen mit denen gereinigt werden, die im Fegefeuer schwere Strafe leiden. Und wenn die Seele gereinigt ist, soll sie zusammen mit denen gereinigt werden, die auf Erden Hoffnung und Glauben hatten, aber nur geringe Liebe.“ Da machten sich die Dämonen aus dem Staube.

Danach dachte die Braut, sie würde sehen, dass sich eine dunkle und schreckliche Stelle öffnen würde, wo da ein Ofen zu sehen war, der innen brannte. Das Feuer hatte nichts anderes zu tun, als noch Teufel und lebende Seelen zu verbrennen. Über diesem Ofen zeigte sich die Seele, deren Urteil schon ergangen war. Die Seele war am Ofen befestigt, und die Seele stand aufrecht wie ein Mensch. Sie stand nicht auf dem höchsten Platz und auch nicht auf dem niedrigsten, sondern gleichsam neben dem Ofen.

Ihre Gestalt war schrecklich und seltsam. Das Feuer im Ofen schien sich durch die Füße der Seele hindurch zu winden, so wie Wasser durch eine Röhre aufsteigt; es drückte sich fest zusammen und schob über ihren Kopf in die Höhe, so dass die Schweißtropfen Adern glichen, die vom brennenden Feuer aufgeschwollen waren. Die Ohren sahen aus wie Blasebälge eines Schmiedes und setzten das Hirn mit ihrem ununterbrochenen Blasen in Bewegung. Die Augen zeigten sich zurückgewandt und eingesunken, nach innen zu am Nacken befestigt.

Der Mund war weit offen, und die Zunge, die durch die Nasenlöcher ausgestreckt war, hingen auf die Lippen herunter. Die Zähne waren wie Eisennägel durch den Gaumen befestigt. Die Arme waren so lang, dass sie bis auf die Füße hinunterhingen, und die beiden Hände schien etwas Fettes mit siedendem Teer zusammenzupressen. Die Haut, die die Seele bedeckte, schien wie ein Tierfell über einem Körper zu hängen, und sie war wie ein mit Samenflüssigkeit übergossenes Leinenkleid. Dieses Kleid war so kalt, dass jeder, der es sah, schaudern musste. Eiter drang daraus hervor, wie aus einer Wunde mit geronnenem Blut, und der Gestank, der dabei auftrat, war so widerlich, dass nicht einmal der schlimmste Gestank auf der Welt damit zu vergleichen war.

Nachdem sie diese Plage gesehen hatte, hörte die Braut eine Stimme von der Seele. Die schrie fünfmal „Wehe!“ und weinte und rief mit aller Kraft: „Weh mir für das erste,“ sagte sie, „dass ich Gott für alle seine großen Tugenden und die Gnade, die er mir erwiesen hat, so wenig geliebt habe! Weh mir für das zweite, dass ich die Gerechtigkeit nicht so gefürchtet habe, wie ich hätte sollen! Weh mir für das dritte, dass ich die Lust des Leibes und meines sündhaften Fleisches geliebt habe! Weh mir für das vierte, wegen der Reichtümer der Welt und meines Hochmuts! Weh mir für das fünfte, dass ich jemals Ludwig und Johanna gesehen habe!

Dann sagte der Engel zu mir: „Ich will dir diese Vision erklären. Der Palast, den du gesehen hast, ist ein Bild des Himmels. Die vielen Geschöpfe, die auf Thronen und in weiße, glänzende Kleider gekleidet waren, sind die Seelen von Engel und Heiligen. Die Sonne bezeichnet Christus in seiner Göttlichkeit, die Frau die Jungfrau, die Gott geboren hat, der Neger den Teufel, der die Seele anklagt, der Ritter den Engel, der die Taten der Seele erzählte, und der Ofen die Hölle, dessen Inneres so heiß brennt, dass – wenn die ganze Welt mit allem, was darinnen ist, brennen würde – so könnte das doch nicht mit der Hitze in diesem Ofen verglichen werden.

In dem Ofen hört man verschiedene Stimmen, die alle gegen Gott anderen, und die alle ihre Reden mit „Weh!“ beginnen und enden. Die Seelen zeigen sich als Menschen, deren Glieder erbarmungslos ausgestreckt werden, und die niemals eine Stunde Ruhe erhalten. Wisse auch, dass das Feuer, das du im Ofen gesehen hast, in ewigem Dunkel brennt, und dass nicht alle Seelen, die dort brennen, dieselbe Art von Plagen haben. Das Dunkel um den Ofen herum heißt Limbus und geht aus dem Dunkel hervor, das im Ofen herrscht; sie beide bilden aber ein Gebiet und eine Hölle, und wer dahin kommt, kann niemals bei Gott wohnen.

Oberhalb dieses Dunkels herrscht die schwerste Pein des Fegefeuers, das Seelen ertragen können. Außerhalb des Platzes gibt es einen anderen Platz, wo eine geringere Pein herrscht, die nichts anderes ist, als eine Verminderung der Kräfte an Stärke und Schönheit und dergleichen. Das ist, um in einem Gleichnis zu sprechen, als ob jemand krank gewesen wäre, und die Krankheit oder Plage aufgehört hätte, aber er hatte noch keine Kräfte, sondern musste diese so allmählich wiedergewinnen.

Es gibt noch einen dritten, höheren Platz, wo keine andere Plage herrscht als die Sehnsucht, zu Gott zu gelangen. Damit du dies besser in deinem Sinn verstehst, komme ich mit einem Gleichnis. Stell dir vor, dass Kupfer mit Gold vermischt wird und nun zusammen mit dem Gold im heißesten Feuer brennt, wo das Metall so lange gereinigt wird, bis das Kupfer verzehrt ist und das Gold in reiner Form übrig bleibt. Je stärker und dicker das Kupfer ist, ein umso heißeres Feuer braucht man, damit das Gold klar wie Wasser wird und immer glühen bleibt.

Dann bringt der Meister das Gold an einen anderen Platz, wo es wirklich Gestalt annehmen soll, um gesehen und berührt zu werden. Danach schickt er es zu einer dritten Stelle, wo es verwahrt werden soll, um dem Eigentümer übergeben zu werden. So ist es auch im geistlichen Bereich. An der ersten Stelle, oberhalb des Dunkels, herrscht die schwerste Plage des Fegefeuers. Das war dort, wo du sahst, dass die genannte Seele gereinigt wird. Die Seelen werden dort der Berührung durch die Teufel und – um im Gleichnis zu sprechen – durch giftige Reptilien und wilde Raubtiere ausgesetzt. Da herrscht Hitze und Kälte, da ist Dunkel und Qual, und dies alles rührt von der Pein in der Hölle her. Manche Seelen leiden größere, andere kleinere Strafen, je nachdem, ob die Sünden wiedergutgemacht sind oder nicht, als die Seelen noch im Körper wohnten.

Dann führt der Meister – ich meine den gerechten Gott – das Gold – ich meine die Seelen – an andere Stellen, wo sie nur aus Mangel an Kräften geplagt werden, und dort müssen sie bleiben, wo sie Hilfe bekommen, entweder von ihren besondern Freunden, oder von den unaufhörlichen Werken der heiligen Kirche. Je größere Hilfe die Seele von ihren Freunden erhält, desto schneller erholt sie sich und wird von diesem Platz befreit.

Danach wird die Seele an einen dritten Platz geführt, wo die einzige Plage aus der Sehnsucht besteht, in die Gegenwart und seine beseligende Betrachtung zu gelangen. Hier bleiben viele und sehr lange, mit Ausnahme derer, die – als sie noch auf Erden lebten - die vollkommene Sehnsucht hatten, in Gottes Nähe zu gelangen, und ihn zu schauen.
Wisse auch, dass viele auf der Welt so gerecht und unschuldig sterben, dass sie gleich in Gottes Nähe und seinen Anblick kommen. Und manche haben ihre Sünden mit so vielen guten Taten gutgemacht, dass ihre Seelen keine Plage erfahren werden.

Es sind jedoch nur wenige, die nicht an den Platz gelangen, wo man sich danach sehnt, zu Gott zu kommen. Und alle die Seelen, die an diesen drei Plätzen wohnen, haben an den Gebeten und guten Werken der hl. Kirche teil, die sie selbst zu Lebzeiten getan haben, und von denen, die ihre Freunde nach ihrem Tode tun. Wisse auch, dass – wie die Sünden mannigfach und wechselnd sind, so sind auch die Strafen mannigfach und verschiedenartig. Wie sich der Hungrig über das Essen freut, das an seinen Mund kommt, ein Durstiger über den Trank und ein Trauriger über die Freude, die er erleben darf, ein Nackter über Kleidungsstücke und ein Kranker, ins Bett zu kommen, so freuen sich auch die Seelen und erhalten Teil an dem Guten, das ihretwegen auf der Welt getan wird.“

Der Engel fügt hinzu: „Gesegnet sei der, der auf Erden den Seelen mit Gebeten, guten Werken und mit körperlicher Arbeit beisteht, denn Gottes Gerechtigkeit kann nicht lügen, die sagt, dass die Seelen nach dem Tode entweder mit der Qual des Fegefeuers gereinigt werden sollen, oder durch die guten Werke von Freunden erlöst werden.“
Dann hörte man viele Stimmen aus dem Fegefeuer sagen: „O Herr Jesus Christus, gerechter Richter, sende deine Liebe zu denen, die auf Erden geistliche Macht haben, dann können wir noch mehr als jetzt an ihrem Gesang, ihrer Lesung und ihren Opfern teilhaben!“ Über dem Raum, von wo aus dieser Ruf gehört wurde, wurde etwas wie ein Haus sichtbar, und daraus hörte man viele Stimmen, die sagten: „Möge Gott die belohnen, die uns in unserer Ohnmacht Hilfe senden!“

Aus dem Hause selbst sah man gleichsam eine Morgenröte aufsteigen, aber unter der Morgenröte zeigte sich ein Himmel, der nicht von dem Glanz der Morgenröte hatte, und vom Himmel hörte man eine laute Stimme, die sagte: „O Herr Gott, gib aus deiner unendlichen Macht denen auf der Welt hundertfachen Lohn, die uns mit ihren guten Werken zum Lichte deiner Gottheit und zum Schauen deines Angesichts erheben!“