76. Kapitel

Die Mutter sprach zur Braut Christi: „Warum fühlst du dich unruhig Tochter?“ Sie (Birgitta) antwortete: „Weil ich fürchte, zu Menschen mit einem harten Herzen geschickt zu werden.“ Die Mutter: „Wie kannst du erkennen, ob Menschen hartherzig oder Gottes Freunde sind?“ Die Braut: „Ich kann das nicht unterscheiden und ich wage nicht, über manche zu urteilen, denn früher wurden mir zwei Menschen gezeigt, von denen der eine nach menschlichem Ermessen sehr demütig und fromm war, aber der andere verschwenderisch und ehrgeizig war. Doch stimmte ihre Absicht und ihre Wille nicht mit ihrem Tun überein, und das verwirrte mich und schüchterte mein Urteilsvermögen ein.“

Die Mutter erwiderte: „Im Hinblick auf das, was offen als Böse zutage tritt, ist es der Seele erlaubt, zu urteilen, indem sie Mitleid hegt und zu bessern sucht. Aber über das zu urteilen, was zweifelhaft ist und wobei die Seele nicht sicher werden kann, das zu beurteilen ist nicht ratsam. Daher will ich dir zu erkennen geben, welche Menschen Gottes Freunde sind.

Du sollst also wissen, dass diejenigen Gottes Freunde sind, die beim Empfang von Gottes Gaben gottesfürchtig sind und zu jeder Stunde Gott dafür danken; die nicht nach Überfluss trachten, sondern mit dem zufrieden sind, was sie haben, aber wo findet man solche Menschen? Lass uns erst unter der Allgemeinheit suchen! Gibt es jemanden, der sagt, dass er genug hat und nicht mehr begehrt? Lass uns unter den Rittern und anderen Herren suchen! Wer von ihnen denkt so: „Das Eigentum, das ich besitze, habe ich durch Erbschaft bekommen, und davon will ich meinen angemessenen und standesgemäßen Lebensunterhalt haben, wie es mit vor Gott und Menschen zusteht; das Überflüssige will ich Gott und den Armen geben. Aber wenn ich wüsste, dass dieses Erbgut schlecht erworben ist, so würde ich es zurückerstatten oder mich nach dem Rat von Gottes auserwählten geistlichen Dienern davon trennen.“

O Tochter, eine solche Einstellung ist selten auf Erden. Lass uns auch unter den Königen und Herzögen suchen, wer lobenswert in seinem Stande lebt! Der ist ein wahrer König, der in seinen Sitten ist wie Hiob, in seiner Demut wie David, in seinem Eifer für das Gesetz wie Pinhas, und wie Mose an Milde und an Langmut. Der ist (ein wahrer) Herzog, der das Kriegsheer des Königs führt und es die Kriegskunst lehrt, der Zuversicht auf Gott und Gottesfurcht hat wie Josua, der den Nutzen seines Herrn mehr als seinen eigenen sucht, wie Joab es tat, und der wie Judas Makkahäus das Wohlergehen seiner Mitmenschen liebt.

Ein solcher Herzog ist wie ein Einhorn, das ein spitzes Horn an der Stirn und einen wertvollen Stein unter dem Horn hat. Was ist das Horn des Herzogs anderes, als sein mannhaftes Herz, womit er tapfer kämpfen und die Glaubensfeinde schlagen soll? Der Stein unter dem Horn des Herzogs ist die göttliche Liebe, die stets in seinem Herzen bleiben soll und ihn flink und unüberwindlich stark zu allem machen soll. Aber jetzt sind die Herzöge mehr wie wilde Ziegen als Einhörner, denn sie kämpfen überall nur für das Fleisch, weder für die Seele noch für Gott. Lass auch unter den Königen suchen, wer von ihnen seine Untertanen nicht in seinem Übermut bedrückt, wer seinen Hofstaat nach den Einkünften der Krone hält, das zurückgibt, was die Krone zu Unrecht innehat, und sich frei von anderen Betätigungen macht, um für Gott Gerechtigkeit zu üben! Ach meine Tochter, wenn man solche Könige auf Erden fände, so dass Gott verherrlicht würde!

Lass uns auch unter den Priestern suchen, denen es doch zukommt, Enthaltsamkeit, Armut und Frömmigkeit zu lieben! Gewiss, auch sie sind vom rechten Wege abgewichen. Was sind die Priester, wenn nicht Gottes arme Leute und Almosenempfänger? Sie sollten von Gottes Opfern leben und umso demütiger und eifriger im Dienste Gottes sein, je mehr sie sich von weltlichen Sorgen gelöst haben, die Kirche ist aus ihrer Drangsal und ihrer Armut aufgestiegen, damit Gott das Erbe der Priester sei, und sie nicht auf der Welt oder im Fleisch geehrt sein sollen, sondern in Gott.

Meine Tochter, hätte Gott nicht Könige und Herzöge zu Aposteln auswählen können, so dass die Kirche auf die Weise durch ein irdisches Erbe reich geworden wäre? Ja, das hätte er gekonnt, aber der reiche Gott kam arm auf die Welt, um mit seinem Beispiel zu zeigen, wie vergänglich das Irdische ist, damit der Mensch eine Lehre daraus ziehen und sich nicht seiner Armut schämen soll, sondern zu den wahren, den himmlischen Reichtümern eilen soll.
Daher begann er auch die herrliche Einrichtung der Kirche mit seinem armen Fischer und setzte diesen an seine Stelle, damit er auf der Welt vom Anteil seines Herrn und nicht von einem (seinem) Erbe leben soll.

So rührte der Anfang der Kirche von drei guten Dingen her: Erstens aus Glaubenseifer, zweitens aus Armut, drittens aus Krafttaten und Wunderwerken. Diese drei Dinge gab es beim hl. Petrus. Denn der hatte Glaubenseifer, als er mit freier Stimme seinem Gott bekannte und nicht zögerte, für ihn zu sterben. Er war auch arm, indem er umherging und bettelte und sich mit seiner Hände Arbeit ernährte. Doch war er reich im geistlichen Bereich, was doch mehr ist, denn dem Lahmen, dem er kein Gold und Silber zu geben hatte, gab er doch das Gehvermögen, was kein Fürst gekonnt hätte.

Hätte Petrus, der einen Toten auferweckte, kein Gold bekommen, wenn er gewollt hätte? Ja gewiss, aber er warf die Last des Reichtums von sich ab, damit er leichter in den Himmel kommen könnte und als Hirte der Schafe ein Beispiel der Demut dafür geben könnte, dass geistliche oder leibliche Demut und Armut in den Himmel gelangt sind.
Drittens zeichnete er sich durch die Kraft zu Wundertaten aus, denn abgesehen von größeren Wundern wurden Kranke sogar von Petri Schatten geheilt. Während die Vollkommenheit der Tugenden, die darin besteht, sich mit dem Notwendigen zu begnügen, also bei ihm wohnte, wurde seine Zunge zum Schlüssel des Himmelreichs, und sein Name ist gesegnet im Himmel und auf Erden. Aber die, die ihren Namen auf Erden erhöht haben und Dreck geliebt haben, nämlich was irdisch ist, die sind auf Erden vergessen und im Buch der göttlichen Gerechtigkeit schrecklich beschrieben.

Aber Gott wollte beweisen, dass die Armut von Petrus und anderen Heiligen nicht erzwungen, sondern freiwillig war, und deshalb gab er vielen ein, ihnen mit Gaben zu helfen. Doch setzen sie größere Ehre in die Armut, als in die Dornen des Reichtums, und je ärmer sie waren, desto mehr nahm die Frömmigkeit bei ihnen zu.
Und das war nicht verwunderlich; sie hatten ja ihr Los und ihre Freude in Gott – wie hätte Gott da von ihnen fern sein können? Aber wie hätte Gott den Menschen lieb sein können, die nach den Genüssen der Welt trachteten?

Er war in ihren Augen eher ein armer Pilger, Aber mit der Zeit geschah es (es war unter Silvester und anderen Päpsten), dass man der Kirche zeitliche Güter schenkte, damit Gottes Freunde desto eifriger und bereitwilliger sein sollten, Gottes Wort zu predigen, und dass das Volk wissen sollte, dass nicht Reichtümer ein Übel sind, sondern deren Missbrauch. Diese Geschenke wandten heiligen Männer lange Zeit nur zu ihrem notwendigen Lebensunterhalt und zu dem der Gottesfreunde und zum Unterhalt der Armen an.

Wisse also, dass die, die sich mit Gottes Vorkehrung abfinden und sich damit begnügen, Gottes Freunde sind. Vielleicht sind sie dir nicht bekannt, aber mein Sohn hat es leichter, sie zu entdecken, denn oft findet sich Gold in hartem Metall, und aus dem harten Feuerstein wird ein Funke hervorgelockt. Geh daher in Sicherheit, denn erst soll man rufen und dann erst handeln. Mein Sohn hat ja, als er leibhaftig lebte, nicht das ganze Land Juda auf einmal bekehrt – es erfordert längere Zeit, um Gottes Wort zu vollenden.