77. Kapitel

Birgitta betet: „Ehre sei dem allmächtigen Gott für alles, was er geschaffen hat! Lob sei ihm für alle seine Tugenden! Ehre und Dienst sei ihm gewidmet für all seine Liebe! Ich unwürdiger Mensch, der seit meiner Jugend viel gegen dich, mein Gott, gesündigt hat, ich danke dir, mein liebster Gott, und am allermeisten dafür, dass keiner so frevelhaft ist, dass du ihm deine Barmherzigkeit verweigerst, wenn er nur mit Liebe und wahrer Demut darum bittet, und mit dem Vorsatz, sich zu bessern.

O liebster Gott, der du lieblicher als alles andere bist, wunderbar für alle die, die davon reden hören, ist das, was du mit mir getan hast. Denn wenn es dir gefällt, lässt du meinen Leib einschlafen, nicht mit körperlichem Schlaf, sondern mit geistlicher Ruhe, und dann weckst du meine Seele wie aus einem Winterschlafe auf, um auf geistliche Art zu sehen, zu hören und zu fühlen.
O Herr mein Gott, wie lieblich sind doch die Worte aus deinem Munde! Es scheint mir wahrhaftig, dass meine Seele, so oft ich Worte deines Geistes höre, sie mit einem Empfinden von unaussprechlicher Süße verschluckt, als wäre sie die schönste Kost; ja, sie scheinen ins Herz meines Leibes zu großer Freude und unbeschreiblichem Entzücken hinab zu fallen.

Aber seltsam scheint es zu sein, dass ich, wenn ich deine Worte höre, Sättigung und Hunger spüre; Sättigung deshalb, weil mir nichts anderes gefällt als sie; Hunger deshalb, dass mein Begehren nach ihnen ständig zunimmt. Dafür seist du gesegnet, mein Gott Jesus Christus; gib mir also deine Hilfe, so dass ich alle Tage meines Lebens imstande bin, das zu tun, was dir wohlgefällt!“

Christus antwortete und sagte: „Ich bin ohne Anfang und ohne Ende. Alles ist von meiner Macht geschaffen und von meiner Weisheit eingerichtet, und alles wird von meinem Belieben gelenkt. Deshalb ist das Herz sehr hart, das mich nicht lieben oder fürchten will, mich, der ich Ernährer und Richter aller Menschen bin. Aber der Teufel, der mein Büttel und Verräter der Menschen ist, nach dessen Willen handeln sie. Er gab der Welt ein so Pestverursachendes Getränt zu trinken, dass die Seele, die sie begierig kostet, nicht mehr leben kann, sondern tot in die Hölle stürzt, um dort in ewigem Elend zu leben.

Dieses Getränk ist die Sünde, die – obwohl sie vielen einen lieblichen Geschmack zu haben scheint, am Ende etwas schrecklich Bitteres erhält. Gewiss wird dieses Getränk mit Lust aus der Hand des Teufels getrunken. Wer hat jemals etwas Seltsameres gehört: Den Menschen wird das Leben angeboten, aber selbst wählen sie den Tod, ja eilen ihm freiwillig entgegen.

Ich, dessen Macht alles übersteigt, habe Mitleid mit ihrer Not und ihrer Drangsal. Ich habe wie ein reicher und liebvoller König gehandelt, der seinen vertrauten Dienern einen Kostbaren Wein schickte und sagte: „Lasst auch andere als euch selber diesen Wein trinken, denn er ist sehr gesund. Er gibt den Kranken Gesundheit, den Betrübten Trost und jungen Menschen ein mutiges Herz.“

Der Wein wurde auch nicht ohne ein Gefäß geschickt. Wahrhaftig, so habe ich es in diesem Reich gemacht. An meine Diener sandte ich meine Worte, die mit dem Wein von erlesenster Güte zu vergleichen sind, und sie sollten sie an andere weitergeben, da sie doch gesund sind. Mit dem Gefäß meine ich dich, die meine Worte hört. Du hast ja meine Worte gehört und sie ausgerichtet, denn du bist mein eigenes Gefäß, das ich fülle, wann ich will, und aus dem ich schöpfe, wenn es mir gefällt. Daher wird mein Geist dir zeigen, wohin du gehen sollst und was du reden sollst, und du solltest keinen anderen fürchten, als mich. Geh froh dorthin, wohin ich will, und sage unerschrocken, was ich dir befehle, denn mir kann nichts widerstehen, und ich will bei dir bleiben.“

Ich, der ich diese Stimme hörte, antwortete weinend: „O Herr mein Gott, ich bin wie die kleinste Mücke in deinem Reich, ich bitte dich, dass du mir erlaubst, dir zu antworten.“ Die Stimme antwortete und sagte: „Ich wusste deine Antwort, ehe du sie dir ausgedacht hast. Doch gebe ich dir die Erlaubnis, zu reden.“ Da sagte die Braut: „Ich frage, warum du, König aller Herrlichkeit, du Spender aller Weisheit, der alle Tugenden, ja selbst die Tugend bewirkt, mich zu einem solchen Auftrag ausersehen willst, mich, der sie ihren Leib von Sünden hat verzehren lassen, mich, der wie ein Esel an Weisheit und unfähig zu tugendhaften Taten ist.

Lieblichster Gott, Jesus Christus, sei nicht zornig, dass ich dich danach fragte. Man sollte sich ja nicht über etwas wundern, was von dir ausgeht, denn du kannst alles tun, was du willst, aber das bin ich selbst, der ich darüber so verwundert bin, denn ich habe dich auf vielfache Weise gekränkt und mich nur wenig gebessert.“

Die Stimme antwortete und sagte: „Ich will dir mit einem Gleichnis antworten. Wenn man einem reichen und mächtigen König verschiedene Arten von Münzen geben würde, und er würde sie dann einschmelzen lassen und daraus anfertigen ließe, was er will, wie Kronen und Ringe aus Goldmünzen, Schüsseln und Trinkschalen aus Silbermünzen, Kessel und Pfannen aus Kupfermünzen, und wenn der König dies alles zu seinem eigenen Nutzen und zu seiner Ehre nutzen würde – würdest du dich da wohl nicht wundern, dass er so verfahren ist?

Ebenso wenig darfst du dich darüber wundern, dass ich mit den Herzen meiner Freunde, die sie mir selber angeboten haben, und die ich fein entgegn nehme, das tue, was mir gefällt. Und wenn manche größeren Verstand und manche weniger haben, so verwende ich doch, wenn sie mir ihre Herzen anbieten, manche zu einem und andere zu einem anderen Zweck, aber alle zu meiner Ehre, denn das Herz der Gerechten ist mir eine überaus wohlgefällige Münze, und deshalb kann ich das, was mir gehört, so verwenden, wie es mir gefällt.
Nachdem du also mein bist, darfst du dich nicht darüber wundern, was ich mit dir machen will, sondern sei unerschütterlich standhaft, auszuhalten und willig sein, das zu tun, was ich dir befehle. Ich bin ja doch imstande, dir überall all das zu geben, was du brauchst.“