Elfter Fragenkreis

Erste Frage: Wieder zeigte sich der Mönch auf seiner Leiter wie vorher und sagte: „O Richter, ich frage dich: Warum hast du, der Gott und Mensch ist, deine Göttlichkeit nicht ebenso gezeigt wie deine Menschlichkeit – dann hätten ja alle an dich geglaubt?“

Zweite Frage: „Und warum lässt du nicht all deine Worte in einem einzigen Augenblick hören – dann wäre es nicht notwendig gewesen, sie mit einem so langen Zeitabstand zu verkünden?“

Dritte Frage: „Und warum hast du nicht alle deine Werke auf einmal getan?“

Vierte Frage: „Und warum ist dein Leib in so langem Zeitraum gewachsen, und nicht in einem einzigen Augenblick?“

Fünfte Frage: „Und warum hast du dich, als dein Tod nahe war, in deiner göttlichen Macht gezeigt, und warum hast du deine Feinde nicht deine strenge Rache spüren lassen, statt zu sagen: „Alles ist vollbracht?“

Antwort auf die 1. Frage.
Der Richter antwortete: „Mein Freund, ich antworte dir und antworte dir nicht. Ich antworte dir, damit die Bosheit deines Gedankens anderen offenbar wird, aber antworte dir nicht, denn dies wird nicht zu deiner Vervollkommnung gezeigt, sondern zum Nutzen und zur Warnung der jetzt lebenden und künftigen Geschlechter. Du hast nämlich nicht die Absicht, deine Halsstarrigkeit zu ändern, und deshalb sollst du nicht von deinem Tod zu meinem Leben übergehen, denn in deinem Leben haßt du das wahre Leben. Stattdessen werden andere, die von deinem Leben und deinem Tode reden hörten, hinübergehen und hin zu meinem Leben schweben.

Es steht ja geschrieben, dass für die Heiligen alles zum Guten ausschlägt, und dass Gott nichts ohne Grund geschehen lässt. Ich antworte dir also nicht wie die, die nach menschlicher Sitte antworten, denn zwischen uns geht es geistlich zu, sondern dafür, dass das, was du denkst und fühlst, für andere in Gleichnissen ausgedrückt wird.

Du fragst, warum ich meine Göttlichkeit nicht ebenso wie meine Menschlichkeit offenbart habe. Der Grund ist, dass die Göttlichkeit geistlich ist, während die Menschengestalt leiblich ist. Sicher ist Göttlichkeit und Menschlichkeit von der Stunde an, da sie sich vereinigten, untrennbar; die Göttlichkeit ist ungeschaffen; alles, was da ist, ist in ihr und von ihr geschaffen, und alle Vollkommenheit und Schönheit findet sich darin. Wenn eine so große Schönheit und Vollkommenheit schwachen, kranken Augen in sichtbarer Weise gezeigt worden wäre – wer hätte es dann ertragen, sie zu sehen? Wer kann auch die materielle Sonne in ihrer Klarheit betrachten, und wer wird beim Anblick des Blitzes und dem Laut des Gewitters nicht erschreckt? Wieviel weniger kann man dann ertragen, den Beherrscher der Blitze und den Schöpfer aller Dinge in seiner Klarheit zu schauen?

Es war also aus doppeltem Grund, dass meine Göttlichkeit nicht offen gezeigt wurde. Erstens im Hinblick auf die Schwachheit des Menschenleibes. Der menschliche Körper ist irdisch in seiner Substanz, und wenn er die Gottheit schauen würde, würde er schmelzen wie Wachs vor dem Feuer, ja die Seele würde von solch jubelnder Freude ergriffen werden, dass der Leib zu Staub zerfallen würde. Zweitens auf Grund von Gottes Güte und unerschütterlicher Unwandelbarkeit. Denn wenn ich meine Göttlichkeit, die unvergleichlich viel glänzender als das Feuer und die Sonne ist, leiblichen Augen zeigen würde, so würde ich im Widerstreit zu meinem eigenen Ausspruch handeln: „Der Mensch kann mich nicht sehen und doch leben.“

Nicht einmal die Propheten haben mich gesehen, wie ich in der Natur meiner Gottheit bin. Ja, sogar die, die nur die Stimme meiner Gottheit hörten und den Berg im Rauch stehen sahen, erschraken und sagten: „Soll Mose mit uns reden; ihn wollen wir hören.“ Ich, der barmherzige Gott, wollte, dass der Mensch mich so gut wie möglich verstehen sollte, und deshalb zeigte ich mich ihm in einer Gestalt, die ihm gleich war, und die er sehen und fühlen konnte, d.h. in meiner Menschengestalt, in der die Gottheit vorhanden ist, aber wie verborgen, so dass der Mensch nicht erschreckt wird von einer Gestalt, die anders war als er. In der Weise, wie ich Gott bin, bin ich ja nicht körperlich und nicht körperlich geschaffen; deshalb konnte ich in meiner Menschengestalt von den Menschen erträglicher gehört und gesehen werden.“

Antwort auf die 2. Frage.
„Auf die Frage, warum ich nicht alle meine Worte in einundderselben Stunde sagte, antworte ich weiter: So wie es im materiallen Bereich wider die Natur des Leibes streitet, dass er auf einmal so viel Nahrung zu sich nimmt, die ihn für viele Jahre im Voraus ernähren könnte, so ist es gegen die göttliche Ordnung, dass meine Worte, die die Speise der Seele sind, alle auf einmal ausgesprochen werden. Nein, wie die leibliche Nahrung nur allmählich eingenommen wird, um zerkaut zu werden und danach weiter in die Eingeweide geführt wird, so sollten meine Worte nicht alle in ein und derselben Stunde gesagt werden, sondern mit Zwischenräumen, je nach dem Verstand derer, die Lehren empfangen sollten, so dass die Hungernden etwas erhalten, sich damit zu sättigen, und die Gesättigten zu höheren Dingen erweckt werden.“

Antwort auf die 3. Frage.
„Auf die Frage, warum ich nicht alle meine Werke auf einmal getan habe, antworte ich weiter: Manche von denen, die mich im Fleisch sahen, haben geglaubt, andere nicht. Für die, die glaubten, war es notwendig, dass sie nach und nach durch Worte aufgezogen wurden, und manchmal durch Beispiele ermuntert und durch Taten bestärkt wurden. Betreffs derer, die nicht glaubten, war es gerecht, dass sie ihre böse Gesinnung zeigten und geduldet wurden, so lange meine göttliche Gerechtigkeit es zuließ.

Wenn ich alle meine Werke in einem einzigen Augenblick getan hätte, so wären mir alle Menschen mehr aus Furcht als aus Liebe gefolgt, und wie wäre dann das Mysterium der menschlichen Erlösung erfüllt worden? Denn so wie bei der Erschaffung und am Anfang der Welt alles zu verschiedenen Zeiten und auf verschiedene Weise ausgeführt wurde, aber alles, was getan werden sollte, doch ohne Zeitenwechsel gleichzeitig in der Voraussicht meiner Gottheit vorhanden war – so sollte auch in meiner Menschengestalt alles vernunftgemäß und mit zeitlichem Abstand zur Erlösung und Unterweisung aller getan werden.“

Antwort auf die 4. Frage.
„Auf die Frage, warum mein Leib mehrere Jahre hindurch und nicht in einem einzigen Augenblick heranwuchs, antworte ich weiter: Der Heilige Geist, der ewig im Vater und in mir, dem Sohn ist, hat den Propheten gezeigt, was ich tun und leiden würde, als ich ins Fleisch kam, und daher hat es der Gottheit gefallen, dass ich einen solchen Leib annahm, in dem ich vom Morgen bis zum Abend und von Jahr zu Jahr bis ans Lebensende arbeiten konnte.
Damit die Worte der Propheten nicht umsonst scheinen sollten, nahm ich, Gottes Sohn, also einen Leib an, der wie der von Adam vor dem Sündenfall war, und so wurde ich wie die, die ich erlösen sollte, so dass der verirrte Mensch durch meine Liebe heimgeführt würde, die Toten auferweckt und die Verlorenen erlöst würden.“

Antwort auf die 5. Frage.
„Auf die Frage, warum ich die Macht meiner Göttlichkeit nicht allen gezeigt habe und wenn ich der wahre Gott war als ich am Kreuze sagte: „Es ist vollbracht“, antworte ich weiter: Alles, was über mich geschrieben war, sollte in Erfüllung gehen. Daher vollbrachte ich alles bis zum letzten Punkt. Aber nachdem auch vieles über meine Auferstehung und Himmelfahrt vorausgesagt wurde, deshalb war es auch notwendig, dass dies Wirklichkeit wurde. Wenn ich also bei meinem Tode die Macht meiner Göttlichkeit gezeigt hätte, wer hätte es dann gewagt, mich vom Kreuz abzunehmen und zu begraben?

Es hätte mir gewiß nur wenig ausgemacht, vom Kreuz herabzusteigen und die Henker zu schlagen, aber wie wäre dann die Prophezeiung erfüllt worden, und wie wäre dann die Tugend meiner Geduld sichtbar geworden? Und auch wenn ich vom Kreuz herabgestiegen wäre, hätten dann alle geglaubt? Würden sie nicht eher gesagt haben, ich hätte Zauberei getrieben? Wenn sie schon Zorn empfanden, als ich Tote auferweckte und Kranke heilte, hätten sie dann noch schlimmere Sachen gesagt, wenn ich vom Kreuz herabgestiegen wäre. Darum ließ ich mich freiwillig gefangen nehmen, dass die Gefangenen befreit würden, und damit die Schuldbeladenen befreit würden, hing ich, der Unschuldige geduldig am Kreuz. So machte ich durch meine feste Geduld all das Lösliche fest und stärkte das Schwache.“