Zwölfter Fragenkreis

Erste Frage: Wieder zeigte sich der Mönch auf seiner Leiter wie vorher und sagte: „O Richter, ich frage dich: Warum wolltest du lieber von einer Jungfrau geboren werden, als von einer anderen Frau, die keine Jungfrau war?“

Zweite Frage: „Und warum zeigtest du nicht mit einem sichtbaren Zeichen, dass sie zugleich Mutter und reine Jungfrau war?“

Dritte Frage: „Und warum hast du deine Geburt derart geheim gehalten, dass sie nur einigen wenigen bekannt war?“

Vierte Frage: „Und warum bist du vor Herodes nach Ägypten geflohen und ließest die unschuldigen Kinder ermordet werden?“

Fünfte Frage: „Und warum lässt du dich schmähen und das Falsche über die Wahrheit triumphieren?“

Antwort auf die 1. Frage.
Der Richter antwortete: „Mein Freund, ich wollte lieber von einer Jungfrau als von einer nichtjungfräulichen Frau geboren werden, denn für mich, den reinsten Gott, passt all das, was am reinsten war. Solange die Natur des Menschen in dem Zustand war, in dem sie geschaffen wurde, hatte sie nichts Missgestaltetes, aber als das Gebot übertreten wurde, kam gleich etwas, dessen man sich schämen musste, wie es bei Menschen geht, die gegen ihren zeitlichen Herrn sündigen und die sich sogar der Glieder schämen müssen, mit denen sie gesündigt haben.

Mit der Scham über den Gesetzesbruch kam auch ein ungeordneter Trieb, und meist in dem Glied, das der Fruchtbarkeit wegen eingerichtet war. Aber damit dieser Trieb nicht ohne Nutzen sei und die Fruchtbarkeit zunichte würde, wurde er durch Gottes Güte zum Guten gewendet, und durch Gottes Gebot und Einrichtung wurde die Handlung der fleischlichen Vermischung geschaffen, so dass sich die Natur vermehren konnte. Jedoch ist es ehrenvoller, sich über das Gebotswort hinauszurecken und aus Liebe das Gute, das man kann, hinzu zu tun.

Daher hat es Gott gefallen, zu seinem Werk lieber das auszuwählen, was auf eine größere Reinheit und Liebe abzielte, und das tut die Jungfräulichkeit, denn es ist tugendreicher und vornehmer, im Feuer der Mühsal zu stecken und nicht zu brennen, als ohne Feuer zu sein und doch gekrönt werden zu wollen. Weil nun die Jungfräulichkeit ein kürzerer Weg zum Himmel ist, aber der Ehestand wie ein anderer Weg ist, deshalb hat es mir, dem allerreinsten Gott gefallen, in der reinsten Jungfrau zu ruhen.

Der erste Mensch wurde aus Erde geschaffen, der sozusagen jungfräulich war, da er noch nicht mit Blut befleckt war. Adam und Eva haben durch Schwelgerei gesündigt, indem sie die verbotene Frucht aßen, wobei doch ihre Natur, d.h. die Natur der Fruchtbarkeit, unverdorben und unbeschadet blieb. So wollte ich, Gott, von dem reinsten Verwahrungsraum aufgenommen werden, so dass alles durch meine Güte erneuert und wiederhergestellt würde.“

Antwort auf die 2. Frage.
„Auf die Frage, warum ich nicht mit offenbaren Zeichen gezeigt habe, dass meine Mutter zugleich Jungfrau und Mutter war, antworte ich weiter: Alle Mysterien meiner Menschwerdung habe ich den Propheten angedeutet, damit sie umso fester glauben sollten, je längere Zeit vorher es ihnen vorausgesagt war. Dass meine Mutter vor und nach der Verlobung wirklich Jungfrau war, dafür lieferte das Zeugnis Josephs ausreichend Beweis, er, der Wächter ihrer Jungfräulichkeit und deren Zeuge war.

Aber auch wenn ihre Reinheit durch ein offenbares Wunder bewiesen wäre, hätten sich doch misstrauische Menschen in ihrer Bosheit nicht der Schmähungen enthalten, denn sie hätten nicht geglaubt, dass eine Jungfrau durch die Macht der Gottheit schwanger werden konnte – nein, sie hätten nicht bedacht, dass dies für mich, Gott, leichter ist, als für die Sonne, das Glas zu durchdringen. Es war die Gerechtigkeit meiner Gottheit, dass das Mysterium der göttlichen Menschwerdung dem Teufel verborgen blieb und in der Zeit der Gnade den Menschen offenbart wurde.

Aber nun sage ich, dass meine Mutter in Wahrheit Mutter und Jungfrau war. So wie in der Erschaffung von Adam und Eva eine wunderbare Gottesmacht war und in ihrem Zusammenleben ein ehrbarer Genuß lag, so enthielt das Kommen meiner Gottheit zur Jungfrau eine wunderbare Güte, denn meine unermessliche, unfassbare Göttlichkeit stieg herab in ein geschlossenes Gefäß, ohne dass dies beschädigt wurde. Dort war es mir angenehm zu weilen, denn ich, Gott, der mit meiner Göttlichkeit überall war, wurde dort mit meiner Menschengestalt eingeschlossen.

Es lag auch eine erschreckende Macht darin, denn ich, Gott, der ohne einen Leib hineingegangen war, kam körperlich aus dem Mutterleib heraus, ohne seine Jungfräulichkeit zu verletzen. Weil es also für den Menschen schwer war, zu glauben, und weil meine Mutter die Freundin aller Demut ist, deshalb hat es mir gefallen, ihre Schönheit und Vollkommenheit eine Zeitlang zu verhüllen – teils damit meine Mutter einen Verdienst davon haben und so noch vollkommener gekrönt werden sollte, teils dafür, dass ich, Gott, zu der Zeit noch mehr verherrlicht werden sollte, da ich das Versprochene vollenden wollte, den Guten zum Verdienst, aber den Bösen zur Vergeltung.“

Antwort auf die 3. Frage.
„Auf die Frage, warum ich nicht den Menschen meine Geburt gezeigt habe, antworte ich weiter: Obwohl der Teufel die Würde verlor, die ihm von Anfang an doch zukam, verlor er doch nicht seine Schlauheit, die den guten Menschen zur Prüfung dient, und ihm selber zur Schande. Damit meine Menschengestalt bis zu der bestimmten Zeit wachsen sollte, sollte also das Mysterium meiner Milde dem Teufel geheim gehalten werden. Ich wollte nämlich heimlich kommen, um den Teufel zu bekämpfen, und ich wollte in einer verachteten Stellung leben, um so den Übermut der Menschen zu dämpfen.

Die Meister des Gesetzes, von dem sie in ihren Büchern lesen, haben mich verachtet, weil ich eben in Demut kam. Und weil sie hochmütig waren, wollten sie die wahre Gerechtigkeit nicht hören, die im Glauben an meine Erlösung liegt. Daher werden sie zuschanzen werden, wenn der Sohn des Verderbens in seinem Übermut kommt. Aber wenn ich sehr mächtig und geehrt gekommen wäre, hätte dann der Übermütige Demut gelernt und hätte in den Himmel kommen können? Keineswegs. Demütig war ich, damit der Mensch Demut lernen sollte, und ich habe mich vor den Hochmütigen verborgen, nachdem sie weder die göttliche Gerechtigkeit noch sich selber kennenlernen wollten.“

Antwort auf die 4. Frage.
„Auf die Frage, warum ich nach Ägypten geflohen bin, antworte ich weiter: Vor der Übertretung des Gebotes gab es einen einzigen Weg zum Himmel, nämlich Brot und Wein; Brot im Überfluß der Tugenden und sonnenklar in der göttlichen Weisheit und im Gehorsam des guten Willens. Seit sich der Wille änderte, taten sich jedoch zwei Wege auf, von denen der eine gen Himmel führte, und der andere davon weg.

Es war der Gehorsam, der zum Himmel führte, während der Ungehorsam davon wegführte. Weil es nun an der freien Wahl des Menschen lag, das Gute oder das Böse zu wählen, zu gehorchen oder nicht zu gehorchen, so hat der gesündigt, der etwas anderes wollte als ich, Gott wollte, dass er wählen wollte. Damit der Mensch erlöst wird, war es also recht und billig, dass jemand kam, der ihn erlöste, und der vollkommenen Gehorsam und vollkommene Unschuld besaß – jemand, dem der, wer wollte, Liebe entgegenbringen konnte, und die, die wollten, Böses. Aber um die Menschen zu erlösen, sollte kein Engel geschickt werden, denn ich, Gott, teile niemand anderes meine Ehre zu. Es gibt keinen Menschen, der mich aus eigener Kraft gnädig stimmen könnte – wie viel weniger dann durch die eines anderen? Deshalb kam ich, Gott, der einzige Gerechte, um alle gerecht zu machen.

Der Umstand, dass ich nach Ägypten floh, bewies die Schwachheit meiner Menschengestalt und brachte die Prophezeiung zur Erfüllung, und ich gab dadurch ein Beispiel für kommende Geschlechter, dass man manchmal um Gottes größerer künftiger Ehre willen vor einer Verfolgung weichen muß. Und dass ich von den Verfolgern nicht gefunden wurde, das zeigt, dass der Ratschluß meiner Gottheit über den der Menschen siegte- es ist ja nicht leicht, gegen Gott zu streiten.

Dass die Kinder (in Bethlehem) ermordet wurden, das bezeichnet mein künftiges Leiden und das Geheimnis mit denen, die berufen werden sollen, und mit der göttlichen Liebe. Obwohl diese Kinder nicht mit ihrer Stimme und ihrem Munde Zeugnis für mich ablegten, taten sie es doch mit ihrem Tod, wie es meiner Kindheit entsprach, denn es war vorausgesehen, dass Gottes Lob auch durch das Blut unschuldiger Kinder vollkommen gemacht werden sollte. Denn obwohl sie die Bosheit der Ungerechten traf, so geschah es doch durch meine göttliche Zulassung, die stets milde und gerecht ist, und dafür um die Bosheit der Menschen und die unbegreifliche Gnade und Güte meiner Göttlichkeit zu zeigen. Da, wo die ruchlose Gemeinheit gegen die Knäblein raste, da herrschte auch gerechterweise Verdienst und Gnade, und wo das Bekenntnis der Zunge und das Alter fehlte, da häufte das Blut – vergießen die vollkommenste Gnade an.“

Antwort auf die 5. Frage.
„Auf die Frage, warum ich mich schmähen lasse, antworte ich weiter: Es steht geschrieben, dass, als König David vor der Verfolgung seines Sohnes floh, von jemandem unterwegs beschimpft wurde, aber als sein Diener den töten wollte, verbot David dies aus doppelter Ursache. Erstens hatte er die Hoffnung, zurückzukommen. Zweitens, weil er seine eigene Schwachheit und Sünde, die Torheit des Schimpfenden und Gottes Geduld und Güte mit ihm selbst betrachtete.

Ich bin David, um im Gleichnis zu reden. Der Mensch verfolgt mich durch seine schlechten Taten, wie der Diener seinen Herrn, indem er mich aus meinem Reich, d.h. aus seiner Seele vertreibt, die ich geschaffen habe, und die mein Reich ist. Er schilt mich für mein Gericht, als wäre ich ungerecht, und er schmäht mich sogar, weil ich geduldig bin. Aber da ich milde bin, ertrage ich deren Unklugheit, und da ich Richter bin, erwarte ich ihre Umkehr bis zum letzten Augenblick. Ja, nachdem der Mensch größeren Glauben an das Falsche als auf das Wahre setzt und die Welt mehr liebt als mich, seinen Gott, ist es nicht verwunderlich, wenn ich den schlechten Menschen in seiner Bosheit ertrage – ihn, der weder die Wahrheit suchen noch sich von seinen bösen werken bekehren will.“