Vierzehnter Fragenkreis

Erste Frage: Wieder zeigte sich dieser Mönch auf seiner Leiter wie vorher und sagte: „O Richter, ich frage dich: Warum leiden die Tiere solche Mühsale, da sie nicht das ewige Leben erlangen sollen, und keinen Verstand haben, den sie gebrauchen können?“

Zweite Frage: Warum wird weiter alles mit Schmerzen geboren, wenn es bei der Geburt in allem keine Sünde gibt?“

Dritte Frage: „Warum trägt das Kind die Sünde des Vaters weiter, wenn es noch gar nicht sündigen kann?“

Vierte Frage: „Warum geschieht es so oft weiter, was nicht vorauszusehen ist?“

Fünfte Frage: „Warum stirbt der Schlechte einen guten Tod wie der Gerechte, und der Gerechte manchmal einen bösen Tod, wie der Ungerechte?“

Antwort auf die 1. Frage.
Der Richter antwortete: „Mein Freund, sicher rührt deine Frage nicht aus Liebe her, aber ich will dir doch aus Liebe zu anderen antworten. Du fragst, warum die Tiere an Krankheiten leiden. Das liegt daran, dass alles bei ihnen wie bei anderen Wesen ungeordnet ist. Ich bin ja der Schöpfer aller Naturen, und einer jeden Natur gab ich ihre Sinnesart und ihre Einrichtung, in der sie sich rühren und leben sollen. Aber nachdem der Mensch, um dessentwillen alles geworden ist, sich gegen mich, seinen Gott, der ihn liebte, empört hat, ist auch alles andere in Unordnung geraten, und all das, was ihn sonst geehrt haben sollte, begann, sich gegen ihn zu erheben, und diese Unordnung ist schuld, dass allerhand Widerwärtigkeiten und Unannehmlichkeiten die Tiere ebenso wie den Menschen treffen.

Übrigens leiden die Tiere wegen der Unmäßigkeit ihrer Natur manchmal daran, dass ihre Wildheit gezähmt und ihre Natur geläutert wird, manchmal wegen Sünden der Menschen, so dass der Mensch bedenken soll, wenn er sieht, dass das, was er liebt, geplagt und unterdrückt wird, welch schwere Strafe er verdient, der einen höheren Verstand erhalten hat. Wenn die Sünden der Menschen das nicht erforderten, so würden auch die Tiere, die ja in der Hand des Menschen sind, nicht so sehr geplagt werden.

Doch leiden sie nicht ohne eine große Gerechtigkeit, denn entweder trifft sie das, damit das Leben schneller zu Ende geht, oder dafür, dass das Elend und die Mühe vermindert wird und die starke Natur sich verzehrt, oder wegen des Wechsels der Zeiten oder der Unachtsamkeit des Menschen, der sie zur Arbeit braucht. Der Mensch soll also mich, seinen Gott, mehr als andere fürchten, und so viel milder gegen meine Geschöpfe und gegen die Tiere sein, über die er sich um meinetwillen, seinen Schöpfer, erbarmen soll. Ich, Gott, habe ja dem Menschen befohlen, den Sabbat zu halten, denn ich nehme meine ganze Schöpfung in Obhut.“

Antwort auf die 2. Frage.
„Auf die Frage, warum alles mit Schmerzen geboren wird, antworte ich weiter: Als der Mensch das schönste Vergnügen verschmähte, lud er sich gleich mühsame Arbeit auf, und nachdem die Unordnung im Menschen ihren Anfang genommen hatte, ist es meine Gerechtigkeit, dass auch die anderen Geschöpfe, die um des Menschen willen da sind, eine gewisse Bitterkeit erfahren, damit ihre Lust gezügelt wird und sie durch ihr Futter erquickt werden.

So wird der Mensch mit Schmerz geboren und lebt unter großer Mühe, damit er sich bemühen soll, zu der wahren Ruhe zu eilen. Er stirbt nackt und arm, damit er seine ungeordneten Triebe bändigt und die kommende Untersuchung fürchtet. Auch die Tiere gebären mit Schmerzen, damit die Bitterkeit die Lust zügelt, und sie so im Stande sind, die Mühe und Leiden des Menschen zu teilen. Deshalb soll der Mensch, der so viel vornehmer als die Tiere ist, mich den Herrgott, seinen Schöpfer, umso inniger lieben.“

Antwort auf die 3. Frage.
„Auf die Frage, warum das Kind die Sünden des Vaters trägt, antworte ich weiter: Das, was unrein hervorgeht, kann niemals rein sein. Daher wurde der erste Mensch, als er wegen seines Ungehorsams die Schönheit der Unschuld verloren hatte, aus der Freude des Paradieses vertrieben und in Unreinheit verstrickt. Diese Unschuld wiederzugewinnen, ist niemand aus sich selbst heraus in der Lage. Deshalb kam ich, der barmherzige Gott, ins Fleisch und stiftete die Taufe, wodurch das Kind von der bösen Unreinheit und von Sünde befreit wird.

Der Sohn soll daher nicht die Sünde des Vaters zu tragen brauchen, und ein jeder wird in seiner Sünde sterben. Aber oft geschieht es, dass die Kinder die Sünden ihrer Eltern nachahmen, und daher werden manchmal die Sünden der Väter in den Kindern bestraft – doch nicht aus dem Grunde, dass die Sünden der Väter in sich selbst ungestraft bleiben, obwohl die Strafen für die Sünden eine Zeitlang aufgeschoben werden – nein, es ist vielmehr so, dass jeder in seiner eigenen Sünde stirbt und bestraft wird. Manchmal werden auch, wie geschrieben steht, die Sünden der Väter noch im vierten Glied heimgesucht, denn es ist meine göttliche Gerechtigkeit, dass – wenn die Kinder meinen Zorn weder für sich selbst noch für ihre Väter zu mildern suchen, sie mit ihren Eltern bestraft werden, denen sie gegen mich gefolgt sind.“

Antwort auf die 4. Frage.
„Auf die Frage, warum das, was nicht vorhersehbar ist, so oft geschieht, antworte ich: Es steht geschrieben, dass der Mensch mit dem gestraft wird, womit er gesündigt hat. Und wer kann Gottes Ratschluß fassen? Weil nun viele mich suchen, aber nicht auf kluge Weise, sondern der Welt wegen, andere mich mehr fürchten, als richtig ist, andere allzu dreist sind, andere hochmütig in ihren Entschlüssen sind – daher lasse ich, Gott, der die Erlösung aller bewirkt, manchmal das geschehen, was der Mensch am meisten fürchtet, manchmal das beseitigt werden, was man mehr liebt, als angemessen ist, und manchmal das entfernt werden, was man allzu eifrig erwartet und sich danach sehnt, so dass der Mensch mich, seinen Gott, über alle Dinge fürchtet, liebt und kennenlernen will.“

Antwort auf die 5. Frage.
„Auf die Frage, warum ein schlechter Mensch einen guten Tod wie der gerechte stirbt, antworte ich: Die Schlechten haben manchmal etwas Gutes an sich und tun ein paar gerechte Taten, für die sie auch in diesem Leben belohnt werden sollen. Ebenso tun manchmal die Gerechten ein paar böse Taten, für die sie schon in diesem Leben bestraft werden. Weil nun alles in diesem Leben unsicher ist und von der Zukunft abhängt, und weil es ein und denselben Eingang für alle gibt, deshalb muß es auch einunddenselben Ausgang geben, denn es ist nicht der Ausgang, der den Menschen selig macht, sondern der Lebenswandel.

Aber dass derselbe Ausgang den Bösen wie den Gerechten zu zuteil wird, das beruht auf meiner göttlichen Gerechtigkeit, denn sie haben selbst den Ausgang ersehnt.
Der Teufel, der das Hinscheiden seiner Freunde voraussieht, sagt ihnen manchmal die Todesstunde zu ihrer Vermessenheit und eitlen Ehre und Verführung voraus (wie in den sog. apokryphischen Schriften zu lesen ist), dass sie nach dem Tode als Gerechte gepriesen werden.

Andererseits erhalten die Gerechten manchmal ein sanftes Verscheiden zu ihrem größeren Verdienst, damit die, die in ihrem Leben stets nach Tugenden gestrebt haben, durch einen schmählichen Tod frei gen Himmel schweben können, so dass nicht einmal die irdische Hölle betroffen wird, wie geschrieben steht, dass der Löwe den ungehorsamen Propheten tötete, aber die Leiche nicht fraß, sondern sie bewachte.

Dass der Löwe den Leib tötete, das deutet auf meine göttliche Gerechtigkeit hin, die es zuließ, dass der Ungehorsam des Propheten bestraft wurde. Dass der Löwe nicht die Leiche fraß, das beweist die guten Werke des Propheten. Er wurde nämlich schon in diesem Leben gereinigt, so dass er im kommenden für gerecht befunden würde. Jeder soll also meine Gerichte fürchten und bedenken, denn ebenso unbegreiflich, wie ich an Tugend und Macht bin, so schrecklich bin ich in meinen Ratschlüssen und Gerichten. Die, welche mich mit ihrer eigenen Weisheit erfassen wollen, sind also in ihrer Hoffnung betrogen.“