Fünfzehnter Fragenkreis

Erste Frage: Wieder zeigte sich dieser Mönch auf seiner Leiter wie vorher und sagte: „O Richter, ich frage dich: Warum ist vieles geschaffen, was aussieht, als sei es zu nichts nütze?“

Zweite Frage: „Und warum sieht man im allgemeinen nicht die Seelen, die in den Körpern sind oder die Körper verlassen?“

Dritte Frage: „Und warum werden deine Freunde, wenn sie beten, nicht immer erhört?“

Vierte Frage: „Und warum wird manchen, die Böses tun wollen, nicht erlaubt, es doch zu tun?“

Fünfte Frage: „Und warum werden viele, die es nicht verdient haben, vom Bösen betroffen?“

Sechste Frage: „Und warum sündigen die, die Gottes Geist besitzen?“

Siebente Frage: „Und warum ist der Teufel bei manchen ständig anwesend, aber bei anderen nie?“

Antwort auf die 1. Frage.
Der Richter antwortete: „Mein Freund, so wie meine Taten viele sind, so sind sie auch wunderbar und unfassbar. Aber wenn es auch viele sind, sind keine ohne Ursache. Der Mensch ist wie ein Knabe, der in einem dunklen Gefängnis geboren ist und der, wenn man ihm erzählt hätte, dass es die Sonne und die Sterne gibt, es nicht geglaubt hätte, weiter sie nie gesehen hat. Nachdem der Mensch das wahre Licht aufgegeben hat, findet er nämlich sein Vergnügen nur im Dunkel. Ja es ist so, wie das Sprichwort sagt, dass dem, der das Böse gewohnt ist, das Böse lieblich erscheint.

Wenn auch der Verstand des Menschen verdunkelt ist, so gibt es doch bei mir keine Verdunkelung oder Veränderung. Ich richte alles so maßvoll ein, und habe immer alles so eingerichtet, dass nichts ohne Ursache und ohne Nutzen gemacht worden ist, nicht einmal die Fälle oder Ödflächen, oder Seen, Raubtiere und die giftigen Reptilien. So wie für den Nutzen der Menschen, so sorge sich auch für den aller geschaffenen Dinge.
Ich bin wie ein Mann, der verschiedene Plätze hat, um darauf zu wandern, andere, um darauf seine nützlichen Geräte zu verwahren, andere für zahme und wilde Tiere, andere für seine Befestigung und geheimen Beratung, andere zum Gebrauch, der sich nach der Beschaffenheit des Bodens richtet, andere zur Erziehung vom Menschen.

Ebenso habe ich, Gott, alles vernünftig geordnet: Manche Dinge zum Nutzen und Vergnügen des Menschen, andere für die vielfachen Vorhaben der Tiere und Vögel, andere zur Zügelung der menschlichen Gewinnsucht, andere für das Harmonieren der Elemente, andere dafür, dass meine Werke bewundert werden, andere, damit die Sünder bestraft werden, andere zum Nutzen höherer und niederer Geschöpfe, andere zu einem Zweck, der mir selbst allein vorbehalten ist.

Sieh, wie die kleine, kleine Biene, wenn es gilt, Honig zu sammeln, vieles aus vielen Kräutern saugen kann! So übertreffen auch andere kleine und große Lebewesen den Menschen an Scharfsinn und Geschick darin, Kräuter zu unterscheiden, und an Einsicht dafür, was für sie nützlich ist, und vieles ist für sie nützlich, was für den Menschen schädlich ist. Ist es da verwunderlich, wenn der Verstand des Menschen es schwer hat, meine Wunder zu unterscheiden, wenn er sogar von den kleinsten Geschöpfen übertroffen wird? Was sieht hässlicher aus, als der Frosch und die Schlange, was ist verächtlicher, als die Klette, die Nessel und ähnliche Gewächse? Und doch sind sie in hohem Maße gut für die, die meine Werke zu unterscheiden wissen. Alles, was da ist, ist also auf die eine oder andere Weise nützlich, und alles, was sich rührt, weiß, auf welche Weise seine Natur bestehen kann und erhöhte Stärke gewinnen kann.

Da nun alle meine Werke wunderbar sind, und alles mich lobpreist, deshalb soll der Mensch, der über die anderen erhöht ist und so viel schöner ist als sie, wissen, dass er desto mehr als die anderen die Pflicht hat, mich zu ehren. Wenn die herabstürzenden Wassermassen nicht am Fuß der Berge aufgehalten würden, wo könnten da die Menschen in Sicherheit bauen? Und wenn die wilden Tiere keinen Zufluchtsort hätten, wie könnten sie dann der unermesslichen Gier der Menschen entkommen? Und wenn dem Menschen alles nach Wunsch ginge, würde er dann nach dem Himmlischen trachten? Aber wenn die Wildtiere keine Mühsale hätten und in Furcht lebten, würden sie geschwächt werden und eingehen. Deshalb sind viele meiner Werke verborgen, damit ich, der wunderbare und unbegreifliche Gott, von den Menschen erkannt und geehrt würde, die meine Weisheit in der Erschaffung so vieler Dinge bewundern.“

Antwort auf die 2. Frage.
„Auf die Frage, warum die Seelen nicht vom Menschen gesehen werden, antworte ich weiter: Die Seele ist von weit besserer Natur als der Körper, denn sie stammt von der Kraft meiner Göttlichkeit ab und ist unsterblich, hat Anteil mit den Engeln, ist mehr als alle Himmelskörper und vornehmer, als sie ganze Welt. Da nun die Seele von edelster und heißer Natur ist, weil sie dem Körper Leben und Wärme verleiht und geistig ist – deshalb kann sie keinesfalls von körperhaften Wesen gesehen werden, sondern nur durch körperhafte Gleichnisse.“

Antwort auf die 3. Frage.
„Auf die Frage, warum meine Freunde, wenn sie mich in ihren Gebeten anrufen, nicht immer von mir erhört werden, antworte ich weiter: Ich bin wie eine Mutter, die sieht, dass ihr Sohn gegen sein Wohlergehen betet und es deshalb unterlässt, sein Begehren zu erfüllen, indem sie sein Weinen mit Drohungen zum Schweigen bringt. Eine solche Drohung enthält auch keinen Zorn, sondern große Barmherzigkeit. So erhöre ich, Gott, nicht immer meine Freunde, denn ich sehe besser als sie, was für ihr Wohlergehen nützlich ist.

Haben nicht auch Paulus und andere fromm gebetet, ohne erhört zu werden? Bei all ihren vielen Tugenden haben meine Freunde manche Schwächen, etwas, wovon sie gereinigt werden sollen, und deshalb werden sie nicht erhört. Der Sinn dabei ist es, dass sie umso demütiger und brennender in der Liebe zu mir werden, je mehr sie sehen, wie groß die Liebe ist, mit der ich sie unbeschadet von Versuchungen zur Sünde bewahre. Es ist also ein Beweis für große Liebe, dass meine Freunde nicht immer erhört werden, und das bringt ihnen größeren Verdienst und dient dazu, ihre Standhaftigkeit zu prüfen.

Denn so wie der Teufel versucht, den Lebenswandel des Gerechten durch irgendeine Sünde oder einen verächtlichen Tod zu beflecken, damit auf diese Weise die Standhaftigkeit der Christen nachlässt, so lasse ich den Gerechten nicht ohne Ursache geprüft werden, damit seine Festigkeit vor anderen hervortritt, und er selber desto ehrenvoller gekrönt wird. Und wie der Teufel sich nicht scheut, die Seinen zu versuchen (er sieht ja, dass sie bereit sind, zu sündigen), so lasse ich es eine Zeitlang bleiben, meine Auserwählten zu schonen, da ich sehe, dass sie zu allem Guten bereit sind.“

Antwort auf die 4. Frage.
„Auf die Frage, warum manche, die Böses tun wollen, nicht die Erlaubnis dazu erhalten, antworte ich weiter: Wenn ein Vater zwei Söhne hat, einen gehorsamen und einen ungehorsamen, so widersteht er dem ungehorsamen so viel er kann, damit er in seiner Bosheit keine Schlechtigkeit begehen kann, während er den gehorsamen prüft und ihn dazu bringt, was noch besser ist, so dass auch der ungehorsame Sohn durch die Aufgeschlossenheit des anderen zu dem erweckt wird, was besser ist. So hindere ich oft die Bösen, zu sündigen, denn neben ihrem Bösen tun sie manches Gute, womit sie sich entweder selber oder anderen nützen. Die Gerechtigkeit erfordert also, dass sie nicht gleich in die Gewalt des Teufels fallen und nicht immer Gelegenheit erhalten, ihren Willen in die Tat umzusetzen.“

Antwort auf die 5. Frage.
„Auf die Frage, warum manche, die es nicht verdienen, von bösen Dingen heimgesucht werden, antworte ich weiter: Jeder, der gut ist, ist mir, Gott, allein bekannt; nur ich weiß, was er verdient. Vieles nimmt sich nämlich schön aus, was es gar nicht ist, und das Feuer erprobt das Gold. Der Gerechte wird manchmal von Leiden betroffen, damit er anderen zum Beispiel und sich selbst zur Krone wird. So wurde auch Hiob geprüft, der schon von seiner Heimsuchung gut war, der aber in der Stunde der Heimsuchung und nachher den Menschen mehr bekannt wurde.

Wer will ergründen, warum ich ihn geplagt habe, und wer kann das wissen, wenn nicht ich selbst, der ihm mit meinen Segnungen zuvorkam und ihn bewahrte, so dass er nicht sündigen sollte, und ihn unter den Heimsuchungen aufrecht hielt? Und wie ich ihm ohne seine Verdienste mit meiner Gnade zuvorkam, so prüfte ich ihn mit Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, denn keiner wird gerecht in meinen Augen ohne meine Gnade.“

Antwort auf die 6. Frage.
„Auf die Frage, warum die, die meinen Geist besitzen, sündigen, antworte ich weiter: Der Geist meiner Göttlichkeit ist nicht gebunden, sondern bläst, wo er will und kehrt zurück, wenn er will, und er wohnt nicht in dem Gefäß, das der Sünde unterworfen ist, sondern in dem, das Liebe hat. Ich, Gott, bin nämlich die Liebe, und wo ich bin, da ist Freiheit. Wer meinen Geist empfängt, kann sündigen, wenn er will, denn jeder Mensch hat seinen freien Willen. Wenn der Mensch seinen Willen gegen meinen richtet, weicht also mein Geist, der in ihm ist, von ihm weg, oder der Mensch wird auch bestraft, damit er seinen Willen lenkt.

So wollte Bileam mein Volk verdammen, aber ich habe ihm das nicht erlaubt. Obwohl dieser Prophet schlecht und gewinnsüchtig war, hat er doch manchmal gute Dinge gesagt, doch nicht von sich selbst aus, sondern aus meinem Geist. Oftmals wird die Gabe meines Geistes Guten und Bösen verliehen. Die großen Schönredner würden nicht über so hohe Dinge disputieren können, wenn sie meinen Geist nicht hätten, und sich nicht so töricht verirren, wenn sie sich in ihren Gedanken nicht gegen mich gestellt hätten, wenn sie nicht hochmütig geworden wären und mehr hätten wissen wollen, als sie sollten.“

Antwort auf die 7. Frage.
„Auf die Frage, warum der Teufel bei manchen öfter anwesend ist und sie heimsucht, antworte ich weiter: „Der Teufel ist als Prüfer und Scharfrichter der Gerechten anzusehen. Daher plagt er die Seelen mancher Menschen mit meiner Zulassung; bei anderen verdunkelt er das Gewissen und setzt sogar dem Körper zu. Er bedrängt die Seelen derer, die gegen ihr besseres Wissen sündigen und aller Unreinheit und allem Unglauben unterworfen sind. Er plagt ihre Gewissen und Leiber, die mancher Sünden wegen schon in diesem Leben gereinigt und gezüchtigt werden.

Eine solche Anfechtung trifft auch Kinder beider Geschlechter, heidnische und christliche, entweder wegen der Nachlässigkeit der Eltern oder aus Hinfälligkeit der Natur, oder zum Schrecken und zur Demütigung anderer, oder auf Grund von manchen Sünden. Meine Gerechtigkeit ordnet es ja barmherzig so, dass die, die keine Gelegenheit zur Sünde haben, umso weniger gestraft und umso ehrenvoller gekrönt werden.

Auch die Tiere werden von vielem unterwegs betroffen, entweder zur Strafe für andere, oder damit ihr Lebensende schneller kommt, oder wegen der Unmäßigkeit ihrer Natur. Dass der Teufel an manchen festhängt und ihnen näher ist als anderen, das beruht also auf meiner Zulassung und dient entweder zu größerer Demütigung und Behutsamkeit, oder zu einer größeren Belohnung und zu größerem Eifer, mich zu suchen, oder es rührt auch von Sünden her, die noch in diesem Leben bereinigt werden müssen, oder die so schwer sind, dass ihre Strafe schon jetzt beginnen muß, um in Ewigkeit zu dauern.“