Sechzehnter Fragenkreis

Erste Frage: Wieder zeigte sich der Mönch auf seiner Leiter wie vorher und sagte: „O Richter, ich frage dich: Warum werden, wie das Evangelium sagt, die Ziegen zu deiner Linken, die Schafe zu deiner Rechten gestellt? Findest du etwa dein Vergnügen daran?“

Zweite Frage: „Wenn du weiter Gottes Sohn bist und dem Vater ähnlich, warum steht dann geschrieben, dass weder du noch die Engel die Stunde des Gerichts kennen?“

Dritte Frage: „Wenn weiter dein Heiliger Geist in den Evangelisten gesprochen hat, warum weichen dann die Evangelien so viel voneinander ab?“

Vierte Frage: „Wenn dein Annehmen von Menschengestalt eine Erlösung für das ganze Menschengeschlecht bedeutet, warum hast du dann so lange damit gewartet, Menschengestalt anzunehmen?

Fünfte Frage: „Wenn weiter die Menschenseele besser als die ganze Welt ist, warum schickst du dann deine Freunde und Prediger nicht immer und zu allen Plätzen?“

Antwort auf die 1. Frage.
Der Richter antwortete: „Mein Freund, du fragst nicht, um zu wissen, sondern deshalb, damit deine Bosheit bekannt wird. Meine Gottheit ist Geist, und Gute und Böse können nicht gleichzeitig bei mir wohnen, wie Licht und Finsternis sich nicht vertragen können. In meiner Gottheit gibt es keine rechte und linke Seite, wie es bei körperlichen Wesen ist, und die Seligkeit hängt auch nicht davon ab, dass man rechts statt links von mir steht; nein, das muss bildlich verstanden werden. Mit der rechten Seite ist nämlich die Hoheit meiner göttlichen Ehre gemeint, mit der linken Seite der Mangel und Verlust von allem Guten.

Weder Schafe noch Ziegen gibt es in dieser meiner bewundernswerten Herrlichkeit, wo es nicht Körperhaftes oder Beflecktes oder Veränderliches gibt. Aber die Sitten der Menschen werden oft durch Bilder und Gleichnissen von Tieren dargestellt. So bezeichnet das Schaf die Unschuld, die Ziege die Wollust d.h. den nicht enthaltsamen Menschen, der auf die linke Seite gestellt werden muss, wo Mangel an allem Guten herrscht. Du kannst also sehen, dass ich, Gott, manchmal menschliche Worte und Gleichnisse benutze, so dass das Kind etwas hat, darauf zu knabbern, und die Vollkommenen etwas haben, was sie noch vollkommener macht. Die Stelle in der Schrift soll ja in Erfüllung gehen, die sagt, dass der Sohn der Jungfrau zu einem Zeichen gesetzt ist, dem widersprochen wird, so dass die vielen Gedanken des Herzens offenbar werden.

Antwort auf die 2. Frage.
„Auf die Frage, warum ich, Gottes Sohn, sagte, dass ich die Stunde des Gerichts nicht kennen würde, antworte ich weiter: Es steht geschrieben, dass Jesus an Alter und Weisheit zunahm. Alles, was wächst und abnimmt, ist veränderlich, während die Gottheit unveränderlich ist. Dass ich, Gottes Sohn, heranwuchs, das lag an meiner menschlichen Natur. Als ich noch nichts darüber wusste, war es meine menschliche Gestalt, die in Unkenntnis schwebte. Nach meiner Göttlichkeit wusste und weiß ich alles. Der Vater tut nämlich nichts, was ich, der Sohn, nicht auch tue. Sollte der Vater etwas wissen, was ich, der Sohn, und der Heilige Geist nicht weiß? Keinesfalls. Aber nur der Vater, mit dem ich, der Sohn, und der Heilige Geist eine einzige Substanz, eine Gottheit und einen Willen bilde, weiß die Stunde für das Gericht, nicht die Engel oder irgendwelche anderen Geschöpfe.“

Antwort auf die 3. Frage.
„Du fragst weiter, warum die Evangelisten nicht besser übereinstimmen wenn der Heilige Geist in ihnen geredet hat. Ich gebe folgende Antwort. Es steht geschrieben, dass der Heilige Geist in seinen Werken mannigfaltig ist, denn er verteilt seine Gaben auf vielerlei Weise unter seinen Auserwählten.

Der Heilige Geist ist wie ein Mann, der eine Waage in der Hand hat und mit vielen Mitteln die Waagschalen ausgleicht und sie aneinander anpasst, bis die Bewegung der Waage stillesteht. Eine solche Waage wird von dem, der es gewohnt oder nicht gewohnt ist, auf verschiedene Weise gehandhabt, verschieden von dem Starken und dem Schwachen. So steigt der Heilige Geist wie eine Waage bald ins Herz der Menschen auf, bald wieder hinunter.

Er steigt auf, wenn er die Sinne durch den feinen Scharfsinn des Verstandes, durch die fromme Andacht der Seele und durch das Entzünden des geistlichen Begehrens erhebt. Er sinkt herunter, wenn er die Sinne sich in Schwierigkeiten verwickeln lässt, sich unnötigerweise ängstigt oder von Trübsalen heimsucht. Und wie eine Waage eine gewisse Festigkeit hat, wenn das Daraufgelegte nicht abgewogen wird, und die Hand dessen, der sie steuert, eingreift, so ist es beim Wirken des Heiligen Geistes notwendig, mit maßvollem Abwägen, bei gutem Lebenswandel, schlichtem und ehrlichem Wollen sowie kluger Unterscheidung in Werken und Tugenden (zu verfahren).

Wenn ich, Gottes Sohn, sichtbar im Fleisch, verschiedene Dinge an verschiedenen Plätzen gepredigt habe, hatte ich deshalb verschiedene Nachfolger und Hörer, denn manche folgten mir aus Liebe, manche deshalb, um eine Gelegenheit zu finden, und aus Neugier, und manche von denen, die mir folgten, waren scharfsinniger, andere weniger begabt. Daher redete ich einfache Dinge, wodurch einfache Menschen erbaut werden konnten, und ich sprach auch höhere Dinge, die die Weisen mit Staunen erfüllten. Manchmal sprach ich in Gleichnissen und dunkel, und dadurch nahmen manche den Anlaß, sich zu äußern – manchmal wiederholte ich das vorher Gesagte, manchmal fügte ich etwas hinzu oder verminderte es.

Es ist also nicht verwunderlich, wenn die, die die Erzählungen der Evangelien geordnet haben, verschiedene, aber doch wahre Dinge berichtet haben. Manche von ihnen haben Wort auf Wort zitiert, andere haben den Inhalt der Worte wiedergegeben, aber nicht die Worte selbst; manche haben das beschrieben, was sie hörten, aber nicht gesehen haben, andere haben von Früherem später gesprochen, andere haben mehr von meiner Göttlichkeit erzählt – ja jeder hat gesprochen, wie der Heilige Geist zu reden eingab.

Aber ich will, dass du weißt, dass nur die Evangelisten, die meine Kirche akzeptieren, angenommen werden dürfen. Viele, die Lust und Eifer hatten, haben nämlich versucht zu schreiben, doch nicht nach meiner Kenntnis. Siehe, ich habe gesagt, wie es heute (in der Messe) gelesen wurde: „Brecht den Tempel ab, so werden ich ihn wieder aufbauen.“ Die, welche bezeugt haben, dass sie das hörten, waren dem gehörten Wort nach wahrhaftig, aber sie waren doch falsche Zeugen, da sie nicht auf den Inhalt meiner Worte achteten – diese Worte sollten ja so verstanden werden, dass sie auf meinen Leib hindeuteten.

Ebenso gingen viele fort, als ich sagte: „Wenn ihr nicht mein Fleisch esst, werdet ihr nicht leben“ – da sie sich nicht an den Zusatz hielten, den ich machte: „Meine Worte sind Leben und Geist“, d.h. sie haben geistlichen Inhalt und Kraft. Es ist nicht verwunderlich, dass sie sich irrten, denn sie folgten mir nicht aus Liebe. Der Heilige Geist hebt sich also wie eine Waage in die Menschenherzen, manchmal dadurch, dass er körperhaft redet, manchmal dadurch, dass er geistlich redet. Er sinkt herunter, wenn das Herz des Menschen sich gegen Gott verhärtet, sich in Ketzereien oder weltliche Nichtigkeiten verstrickt und verdunkelt.“

Zu derselben Zeit sagte der Richter zu dem fragenden Mönch, der auf der Leitersprosse stand: „Mein Freund, du hast mich so oft nach komplizierten Dingen gefragt. Nun will ich dich meiner Braut wegen, die hier zugegen ist, fragen: Warum liebt deine Seele, die Klugheit besitzt und Gut und Böse unterscheiden kann, das Vergängliche mehr als das Himmlische, und warum lebt sie nicht in Einheit mit dem, was sie versteht?“
Der Mönch erwiderte: „Deshalb, weil ich gegen den Verstand handele und die Sinne des Fleisches über den Verstand herrschen lasse.“ Christus sagte: „Dein Gewissen soll denn dein Richter sein.“

Er sagte dann zur Braut (Birgitta): Sieh, meine Tochter, wie nicht nur die Bosheit des Teufels, sondern auch das verworrene Gewissen beim Menschen herrscht! Das liegt daran, dass der Mensch nicht der Versuchung widersteht, wie er doch sollte. So handelte aber nicht der Magister, den du kennst. Bei ihm ist der Geist versunken, indem er bis zu dem Grad versucht wurde, dass es war, als ob alle Ketzereien vor ihm stünden und gleichsam wie aus einem Munde sagten: „Wir sind die Wahrheit.“ Er glaubte jedoch seinen Sinnen nicht und fühlte sich darüber erhaben,[1] und deshalb wurde er befreit und wurde von Anfang bis zum Ende weise gemacht, wie ihm versprochen war.

Antwort auf die 4. Frage.
„Auf die Frage, warum ich meine Menschwerdung so lange aufgeschoben habe, antworte ich weiter: Meine Menschwerdung war wirklich notwendig, denn dadurch wurde die Verdammung aufgehoben, und alles bekam Frieden im Himmel und auf Erden. Aber es war notwendig, dass der Mensch erst durch das Naturgesetz aufgezogen wurde, und danach durch das geschriebene Gesetz. Durch das Naturgesetz trat ja zutage, wie groß die Liebe des Menschen war. Durch das geschriebene Gesetz begriff der Mensch seine Gebrechlichkeit und sein Elend und fing an, Heilmittel zu suchen.

Daher war es angebracht, dass der Arzt kommen sollte, als sich die Gebrechlichkeit verschlimmerte, und dass dort, wo die Krankheit geherrscht hatte, dort die Heilung in noch höherem Grade herrschte. Aber sowohl unter dem Naturgesetz und dem geschriebenen Gesetz gab es viele Gerechte, und viele besaßen den Heiligen Geist und sagten vieles voraus, erzogen andere zu allem, was tugendhaft war und warteten auf mich den Erlöser. Diese gingen meiner Barmherzigkeit entgegen, nicht der ewigen Strafe.“

Antwort auf die 5. Frage.
„Auf die Frage, warum Prediger nicht immer und zu allen Orten gesandt werden, wenn die Seele doch besser ist als die Welt, antworte ich weiter: Die Seele ist in Wahrheit würdiger und edler als die ganze Welt, und beständiger als alles andere. Sie ist würdiger, da sie geistig ist, gleichgestellt mit den Engeln und zur ewigen Freude geschaffen ist. Sie ist edler, weil sie wie das Abbild meiner Gottheit geschaffen ist, und weil sie unsterblich und ewig ist.

Da der Mensch also würdiger und edler als alle anderen Geschöpfe ist, muss er auch edler leben, als alle anderen. Er ist ja vor allen anderen mit Verstand ausgerüstet. Aber wenn der Mensch den Verstand und meine göttlichen Gaben missbraucht, ist es dann verwunderlich, wenn ich das zur Zeit der Gerechtigkeit bestrafe, was zur Zeit der Barmherzigkeit versäumt wurde? So werden Prediger nicht überall und an alle Plätze gesandt, denn ich Gott, sehe die Härte vieler Herzen im voraus und verschone meine Auserwählten von unnötiger Mühe Und da viele bewusst und munter sündigen und es vorziehen, in Sünde zu verharren, statt sich bekehren zu lassen, deshalb sind sie es nicht wert, die Botschaft der Erlösung zu vernehmen.

Aber, mein Freund, nun schließe ich, deine Gedanken zu beantworten, und du wirst das Leben auch beenden. Nun möchtest du wissen, was deine wortreiche Beredsamkeit und Menschengunst dir genützt hat. O wie glücklich würdest du sein, wenn du auf deine Versprechen und deinen Eid geachtet hättest!“

Zum Schluß sagte der Geist zur Braut: „Tochter, der, den du all dies fragen hörtest, lebt noch im Leibe, aber er wird nicht noch einen ganzen Tag leben bleiben. Die Gefühle und Gedanken seines Herzens wurden dir in Gleichnissen gezeigt, nicht zu größerem Schimpf für ihn, sondern zur Erlösung anderer Seelen. Aber sieh, nun endet sein Leib und sein Leben mit den Gefühlen und Gedanken.“

[1]. So wohl sinngemäß: Och kände icke heller ovan sig själv.