Sechster Fragenkreis

Erste Frage: Wieder zeigte sich der Mönch auf seiner Leiter wie vor her und sagte: ”O Richter, ich frage dich, warum das eine Kind lebend aus dem Mutterleib hervorgeht und die Taufe erhält, während das andere, das doch im Innern der Mutter Leben erhalten hat, stirbt.”

Zweite Frage: „Warum wird der Gerechte von so vielen Unglücksfällen betroffen, während der Ungerechte alle seine Wünsche erfüllt bekommt?“

Dritte Frage: „Warum trifft weiter so viel Pest und Hungersnot und so viele Leiden ein, die den Körper plagen?“

Vierte Frage: „Warum kommt der Tod so unvorbereitet, dass man ihn nur höchst selten voraussehen kann?“

Fünfte Frage: „Warum lässt du weiter Männer mit absichtlichem Zorn und Neid Krieg anzetteln, um sich zu rächen?“

Antwort auf die erste Frage.
Der Richter erwiderte: „Mein Freund, deine Frage erfolgt nicht aus Liebe, sondern nur, weil ich sie zulasse. Deshalb will ich dir mit Gleichnisworten antworten. Du fragst, warum das eine Kind im Inneren der Mutter stirbt, während das andere lebend hervorkommt. Der Anlaß ist dieser: Alle Kraft in einem Kinderkörper rührt von dem Samen des Vaters und der Mutter her, aber wenn das, was gezeugt wird, auf Grund einer Schwäche beim Vater oder der Mutter – keine ausreichende Stärke hat, stirbt es bald.

Vieles beruht auf der Nachlässigkeit und Unachtsamkeit der Eltern, und vieles geschieht durch meine göttliche Gerechtigkeit, damit das, was vereint war, schneller getrennt wird, und dafür erhält die Seele (obwohl ihr nicht länger Zeit gelassen wird, dem Körper Leben zu schenken) keine besonders harte Pein, sondern das Erbarmen, für das ich bekannt bin. So wie die Sonne, wenn sie in ein Haus hineinleuchtet, nicht zu sehen ist, wie sie in ihrer vollen Schönheit am Himmelszelt zu sehen ist – es sind nur ihre Strahlen, die man dann sieht – so erhalten die Seelen solcher Kinder – obwohl sie wegen des Fehlens der Taufe mein Antlitz nicht zu sehen bekommen – eher Erbarmen als Strafe, wenn sie auch nicht dasselbe Los wie meine Auserwählten erhalten.“

Antwort auf die zweite Frage.
„Auf die Frage, warum der Gerechte von Unglücksfällen betroffen wird, antworte ich weiter: Meine Gerechtigkeit besteht darin, dass jeder gerechte Mensch erhält, was er begehrt. Aber der ist nicht gerecht, der nicht für Gehorsam und Vervollkommnung der Gerechtigkeit begehrt, von Unglück verschont zu werden, und der seinem Nächsten nicht aus göttlicher Liebe Gutes tut. Meine Freunde bedenken, was ich, ihr Gott und Erlöser, getan und ihnen versprochen habe, so wie sie gleichzeitig auf das Böse Acht geben, das auf der Welt herrscht; deshalb wünschen sie sich – zu meiner Ehre, zu ihrer eigenen Erlösung und zum Vermeiden von Sünde – eher Erfolg als Misserfolg auf Erden; sie hoffen, dadurch der Versuchung zu entgehen.

Und deshalb lasse ich auch zu, dass Mühsale sie treffen, und auch wenn manche von ihnen ihre Leiden weniger geduldig tragen, so lasse ich doch dies alles nicht ohne Ursache zu und stehe ihnen in der Stunde der Prüfung bei. Wenn ein Sohn im Kindesalter von seiner liebvollen Mutter gezüchtigt wird, weiß er nicht, ihr zu danken, weil er ja nicht beurteilen kann, aus welchem Grunde er gestraft wird. Wenn er aber ins reife Alter gekommen ist, dankt er ihr, weil er durch ihre mütterliche Zucht von schlechten Sitten abgebracht ist und sich an gute gewöhnt hat.

So verfahre ich mit meinen Auserwählten, denn sie überlassen mir ihren Willen und lieben mich über alles, und darum werden sie eine Zeitlang von Widrigkeiten heimgesucht, und obwohl sie im gegenwärtigen Leben meine Wohltaten nicht vollständig verstehen, tue ich doch das, was ihnen in Zukunft nützen soll. Aber die Gottlosen kümmern sich nicht um Gerechtigkeit, scheuen sich nicht davor, anderen Unrecht zuzufügen, begehren das Vergängliche und lieben weltliche Genüsse.

Deshalb lässt sie meine Gerechtigkeit eine Zeitlang Erfolg haben, und sie werden mit Plagen verschont, damit sie nicht noch mehr sündigen, falls sie von Unglück betroffen werden. Doch erhalten nicht alle Bösen, was sie begehren, denn sie sollen lernen, dass es in meiner Macht steht, zu geben, wem ich will. Auch den Undankbaren verleihe ich, was gut ist, obwohl sie es nicht verdienen.“

Antwort auf die dritte Frage.
„Auf die Frage, warum Pest und Hungersnöte kommen, antworte ich weiter: Es steht im Gesetz geschrieben, dass der, der stiehlt, mehr zurückgeben soll, als er gestohlen hat. Da undankbare Menschen meine Gaben empfangen und sie missbrauchen und mir nicht die gebührende Ehre erweisen, lasse ich den Leib in diesem Leben sehr plagen, um die Seele im kommenden Leben schonen zu können. Manchmal schone ich den Leib und strafe stattdessen den Menschen in dem und durch das, was er liebt, so dass der, der mich nicht kennenlernen wollte, als er froh war, mich kennenlernt, wenn er betrübt ist.“

Antwort auf die vierte Frage.
„Auf die Frage, warum der Tod so plötzlich kommt, antworte ich weiter: Wenn der Mensch um seine Todesstunde wüsste, würde er mir aus Furcht dienen und vor Sorge verkümmern. Damit der Mensch mir aus Liebe dient und ständig Kummer um sich selbst hegt, aber sicher in Bezug auf mich ist, ist die Stunde für den Heimgang für alle unsicher. Und mit Recht, denn nachdem der Mensch das verlassen hat, was sicher und wahr war, war es notwendig und gerecht, dass er von dem geplagt wird, was ungewiß ist.“

Antwort auf die fünfte Frage.
„Auf die Frage, warum ich es zulasse, dass Menschen in ihrem Zorn und ihrer Bosheit Krieg anzetteln, antworte ich weiter: Jeder, der den festen Willen hat, seinem Nächsten zu schaden, ist wie der Teufel und ist sein Glied und Werkzeug. Dem Teufel würde ich Unrecht tun, wenn ich ihm zu Unrecht seinen Diener rauben würde. So wie ich mein Werkzeug dazu benutze, was mir behagt, so ist es auch gerecht, dass der Teufel mit dem Menschen tut und bewirkt, was ihm gehört – der lieber sein Glied sein will, als meines – entweder zur Reinigung anderer, oder um seine Schlechtigkeit mit meiner Zulassung zu verwirklichen, wie die Sünde es ja auch erfordert.“