Erste Frage: Wieder zeigte sich der Mönch auf seiner Leiter wie vorher und sagte: „O Richter, ich frage dich: Warum spricht man von „hässlich“ und „schön“ auf der Welt?“
Zweite Frage: „Und warum muß ich die Schönheit der Welt hassen, ich, der ich so schön und von so vornehmer Herkunft bin?“
Dritte Frage: „Und warum darf ich mich nicht über andere erheben, wenn ich reich bin?“
Vierte Frage: „Und warum darf ich mich nicht vor andere setzen, wenn ich nun ehrwürdiger bin als sie?“
Fünfte Frage: „Und warum darf ich nicht meinen eigenen Ruhm suchen, wenn ich gut und lobenswert bin?“
Sechste Frage: „Und warum darf ich keine Belohnung fordern, wenn ich anderen Dienste erweise?“
Antwort auf die 1. Frage.
Der Richter antwortete: „Mein Freund, das Hässliche und Schöne auf der Welt kann mit anderen Worten bitter und lieblich genannt werden, denn das Hässliche auf der Welt, d.h. Verleumdung und Unglück auf Erden, ist etwas Bitteres, was den Gerechten nützt und ihnen zur Gesundheit dient, während die Schönheit der Welt, d.h. Erfolg auf Erden, eine falsche und verführerische Verlockung ist. Wer also der Schönheit der Welt entflieht und ihre Süßigkeit verschmäht, wird nicht die Hässlichkeit der Hölle erleben oder ihre Bitterkeit schmecken, sondern zu meiner Freude aufsteigen.
Deshalb ist es notwendig, damit man der Hässlichkeit der Hölle entgeht und die Lieblichkeit des Himmelreichs gewinnt, lieber nach der Hässlichkeit der Welt als nach ihrer Schönheit greift, denn auch wenn alles gut von mir erschaffen ist und das alles zusammen sehr gut ist, soll man sich doch in höchstem Grad davor in Acht nehmen, was der Seele Schaden zufügen kann, wenn man meine Gaben unverständig benutzt.“
Antwort auf die 2. Frage.
„Auf die Frage, warum man sich nicht seiner Herkunft rühmen darf, antworte ich weiter: Du hattest deinen Ursprung von der hässlichsten Verderbtheit und Unreinheit deines Vaters, und im Leibe deiner Mutter warst du wie tot und vollkommen unrein. Es stand nicht in deiner Macht, von vornehmen oder geringen Eltern geboren zu werden, sondern meine Güte und Huld hat dich ans Licht gerufen. Also magst du, wenn du vornehm genannt wirst, dich unter mich, deinen Gott, demütigen, der dich in einer vornehmen Familie hat geboren werden lassen und dich deinem Nächsten gleichgestellt hat.
Denn er ist aus demselben Stoff wie du, obwohl du durch meine Vorsehung aus einem nach weltlichen Begriffen hohen Geschlecht hervorgegangen bist, und er aus einem geringen. Du, der du hochgeboren bist, desto strengere Rechenschaft wird von dir gefordert werden, und einem umso härteren Gericht musst du dich unterwerfen, nachdem du mehr empfangen hast.“
Antwort auf die 3. Frage.
„Auf die Frage, warum man nicht mit Reichtümern prahlen darf, antworte ich weiter: Die Reichtümer der Welt gehören dir nur um der notwendigen Speise und der Kleidung willen. Die Welt ist nämlich zu dem Zweck geschaffen, damit der Mensch den Unterhalt seines Leibes haben soll und durch Arbeit und Demut zu mir, seinem Gott, zurückkehrt, gegen den er ungehorsam war, den er verachtet hat, und um den er sich in seinem Übermut nicht gekümmert hat.
Wenn du sagst, dass zeitliche Güter dir gehören, sage ich die sichere Wahrheit, dass all das, was du über das Lebensnotwendige hinaus besitzt, das hast du dir mit Gewalt angeeignet. Denn alle zeitlichen Güter sollen für alle gleich sein, die es brauchen; so gebietet es die Liebe. Aber du bildest dir etwas auf deinen Überfluß ein, den du aus Mitleid an andere verleihen solltest.
Wenn auch viele aus vernünftigen Gründen viel mehr als andere besitzen und es klug ausgeben, ist es doch geraten, damit man beim Gericht nicht strenger gegen dich verfahren soll, der du mehr empfangen hast als andere, dass du nicht viel Eigentum einsammelst und dich hochmütig für mehr hältst als andere. Denn ebenso behaglich wie es ist, auf der Welt mehr zeitlichen Besitz als andere zu haben und im Überfluß zu leben, ebenso gefährlich und über die Maßen schwer ist es beim Gericht, wenn man sogar betreffs des erlaubten Eigentums beweisen muß, dass man es klug verwaltet hat.“
Antwort auf die 4. und 5. Frage.
„Auf die Frage, warum man nicht seinen eigenen Ruhm suchen darf, antworte ich weiter: Niemand ist gut von sich selbst aus außer mir, Gott, und jeder, der gut ist, hat dieses Gute von mir. Wenn also du, der nichts ist, dein eigenes Lob und nicht das meine suchst, obwohl jede vollkommene Gabe von mir kommt, so ist dein Ruhm falsch, und du tust mir, deinem Schöpfer gegenüber Unrecht.
Denn so wie alles Gute, was du hast, von mir kommt, so musst du mir allen Ruhm schenken, und so wie ich, dein Gott, dir alles zeitliche Gut beschert, Kräfte, Gesundheit, Gewissen, Klugheit, das zu bedenken, was für dich nützlich ist, Zeit und Leben, so bin doch ich es, den du ehren sollst, wenn du das gut und verständig verwaltest, was dir geschenkt worden ist. Aber wenn du es schlecht verwaltest, dann ist es dein Fehler, und du machst dich der Undankbarkeit schuldig.“
Antwort auf die 6. Frage.
„Auf die Frage, warum man im jetzigen Leben keine zeitliche Belohnung für gute Taten begehren soll, antworte ich dir weiter: Jeder, der anderen gegenüber Gutes tut und nicht nach Vergeltung von Menschen fragt, sondern nur nach der, die ich – Gott – ihm geben will, der wird das Größte für das Kleinste, das Ewige für das Zeitliche bekommen; dagegen wird der, der das Irdische und das Zeitliche sucht, erhalten, was er begehrt, aber das Unvergängliche verlieren. Daher ist es nützlicher, damit man das Ewige statt des Vergänglichen gewinnt – keine Belohnung von Menschen zu begehren, sondern von mir.“
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