116. Kapitel

Ein einfältiger Mann, der das Pater Noster nicht ganz konnte, begehrte von Frau Birgitta Rat für seine Seele. Christus sagte zu ihr: „Mir gefällt die Einfalt der Seele dieses einfältigen Mannes mehr als die Klugheit der Hochmütigen, denn bei ihnen wohnt der Hochmut, der das Herz von Gott entfernt – aber bei ihm wohnt die Demut, die Gott ins Herz führt. Sag ihm deshalb, dass er seine gewöhnliche Tätigkeit wie bisher fortsetzen soll; so wird er seinen Lohn mit denen erhalten, zu denen ich sagte: „Kommt ihr, die arbeitet, und ich werde euch mit dem ewigen Brote sättigen.“

Denn wenn ich ihm das sage, was ich zu dem Juden sagte, der mich heuchlerisch um Rat fragte: „Halte die Gebote und verkaufe alles, was du hast“, so kann er das ja gar nicht tun, denn das Alter nimmt keine Lehre an, und die Armut hat nichts zu verkaufen. (Doch sind die Gebote für den Menschen notwendig, der danach strebt, das ewige Leben zu gewinnen, denn ohne sie kann der Mensch nicht erlöst werden, sofern er Zeit für einen geistlichen Lehrer und Zugang zu ihm hat.)

Die weise Unkenntnis und der gute Wille dieses Mannes gefallen mir so, wie die zwei Pfennige, die die Witwe opferte, und die ich den Reichtümern der Könige vorgezogen habe, denn in seinem mangelnden Wissen besitzt er alle Weisheit. Er liebt mich nämlich in seinem Herzen – aber woher hat er diese Liebe, wenn nicht von meinem Geist? Und dies halten die Weisen der Welt für Unkenntnis: Nicht Reichtümer zu lieben, und keine großen Sprüche machen zu können.

Ich sagte: „Weise Unkenntnis“, denn von meinem Geist hat er die wahre Weisheit gelernt, nämlich Gott zu lieben. Scheint er dir nicht auch wirklich weise, der nicht mehr kann, als ein einziges Wort, nämlich lieben? Durch diese Liebe hält er alle Gebote im Gesetz Moses; durch diese Liebe gibt er Gott, was Gott zusteht; durch sie hält er alle Vorschriften und Gesetze; Durch sie liebt er seinen Nächsten und begehrt nicht anderer Leute Güter – nein, nur das was für ihn notwendig ist, indem er seinem Nächsten nicht durch Raub oder Falschheit schadet; durch sie erinnert er sich stets an seinen Tod und das Urteil, das ich einmal über ihn fällen werden.

Und deshalb braucht der, der zu mir kommen will, sich nicht um seine Unkenntnis im Gesetz zu sorgen, wenn er nur sein Gewissen benutzt, das sagt, dass er anderen das tun soll, von dem er selbst will, dass es ihm widerfährt. Denn warum lehrt sich der Mensch so viele Dinge und liest so viele Bücher durch? Etwa, um mir zu dienen? Geschieht es nicht eher aus Neugier und Zeitvertreib, und um zu prahlen und „Meister“ genannt zu werden?

Doch hat ein jeder sein Gewissen, und danach wird ein jeder von mir beurteilt werden. Deshalb, Tochter, gefällt mir der, der mit völligem Glauben und Willen diese fünf Worte im Gesetz liest: „Jesus, erbarme dich meiner“ – mehr als der, der ohne Aufmerksamkeit tausend Bibelverse liest.“