14. Kapitel

Ein Engel sprach zum Herrn und sagte: „Lob sei dir, mein Herr, von deiner Heerschar für alle deine Liebe! Diese Braut, die hier steht, hast du meiner Obhut überlassen; sieh, jetzt gebe ich sie dir zurück. Ich habe sie zu dir gelockt wie ein kleines Kind, indem ich ihr erst einen Apfel gab, und dann, als der Apfel aufgegessen war, zu ihr sagte: „Folge mir auch weiter, Tochter, so werde ich dir den süßesten Wein geben, denn der Apfel hat nur einen ganz unbedeutenden Geschmack, aber im Wein liegt Süßigkeit und Jubelfreude der Seele!“ Nachdem sie den Wein probiert hatte, sagte ich weiter zu ihr: „Geh noch weiter, so werde ich dir das beschaffen, was in Ewigkeit besteht, und in dem alles Gute vorhanden ist!“

Danach sagte der Herr zur Braut: „Es ist wahr, was mein Diener sagte, als du zuhörtest. Er hat dich sicher wie mit einem Apfel zu mir gelockt, als du daran dachtest, dass alles, was du hattest, von mir war, und keinem anderen dafür gedankt hast als mir. Denn wie der Apfel einen ganz unbedeutenden Geschmack besitzt und nur sehr wenig satt macht, so hat dir meine Liebe zu der Zeit auch nicht sehr geschmeckt; in deinem Herzen gab es nur so etwas, wie einen Geschmack vom Gedanken an Gott.

Du bist weiter fortgeschritten, als du dachtest: „Gottes Ehre ist ewig, und die Freude der Welt sehr kurz und am Ende ganz unnütz. Was nützt es mir, dass ich das Zeitliche so liebe? „Auf Grund solcher Gedanken fingst du entschlossen an, dich von den Genüssen der Welt fernzuhalten und in meinem Namen das Gute zu tun, was du konntest. Und so hast du dich – gleichsam vom Verlangen nach dem Wein entzündet – noch mehr nach mir gesehnt. Als du dann bedachtest, dass ich der allmächtige Herr bin, von dem alles Gute kommt, und deinen eigenen Willen aufgegeben hast, um meinen zu tun, da bist du mit Recht mein geworden, und ich gab dir meine Zustimmung und ich habe dich zu der meinen gemacht.

Dann sagte der Herr zum Engel: „Mein Diener, du bist reich in mir, deine Ehre ist ewig, dein Liebesfeuer unauslöschlich, deine Tugend lässt nie nach. Du hast mir meine Braut überlassen, aber ich will, dass du sie noch beschützen sollst, bis sie das reife Alter erreicht hat. Schütze sie, so dass ihr nicht der Teufel in einem unbewachten Augenblick einen Hinterhalt legt. Umgib sie mit Kleidern der Tugend, mit Kleidern von aller Schönheit. Nähre sie mit meinen Worten, die wie frisches Fleisch sind, wodurch das Blut verbessert wird, das kranke Fleisch gekräftigt wird und in der Seele Vergnügen geweckt wird.

Ich bin nämlich so verfahren, wie mancher es mit seinem Freunde tut, den er aus Liebe und wegen seiner Güte an sich zieht. Er sagt nämlich zu ihm: „Mein Freund, geh in mein Haus und sieh, was da vor sich geht, und was es da für dich zu tun gibt.“ Wenn der Freund eintritt, zeigt er ihm nicht die widerlichen Schlangen und wilden Löwen, die da wohnen, damit der Freund nicht erschreckt wird, sondern zur Freude des Freundes lässt er die Schlangen wie die sanftmütigsten Lämmer und die Löwen wie die schönsten Schafe aussehen, und er sagt zum Freund: „Mein Freund, du sollst wissen, dass ich dich liebe und dich um deiner Güte willen eingeladen habe. Daher sollst du meinen Freunden erzählen, was du siehst, und sie sollen dich beschützen und dich trösten, so dass dir die Gefangenschaft bei mir besser gefällt, als deine eigene Freiheit.“

Meine geliebte Tochter, in derselben Weise habe ich mit dir gehandelt. Ich habe dich sozusagen gefangen, als ich dich vor deiner eigenen Liebe zu meiner Liebe rief, als ich dich von den Ängsten der Welt in diesen Hafen der Ruhe rief, wo die, von denen du glaubst, dass sie jungfräulich enthaltsam sind, in Wirklichkeit Löwen in ihrer Bosheit sind, und die, von denen du glaubst, sie seien Lämmer in ihrer göttlichen Kontemplation, wälzen sich wie Schlangen auf dem Bauche ihrer Schwelgerei und ihrer Gelüste.

Daher sollst du keinem anderen erzählen, was du siehst und hörst, sondern nur meinen Freunden, die dich beschützen und unterweisen. Der Geist, der dich zum Hafen geführt hat, er wird dich auch zum himmlischen Vaterland führen, und der, der dich zum guten Anfang führte, er wird dich auch zu dem noch besseren Ende führen.“