15. Kapitel

Der Prälat, für den du betest, hat nun seine Augen von mir abgewandt und hat sich mit dem Ornat seiner Würde der Welt zugewandt. Wenn er mein sein wollte, würde er täglich auf mich schauen und gewissenhaft mein Buch lesen und nicht so eifrig an das Gesetz denken, das „Gesetz der Kirche heißt.

Sie (Birgitta) antwortete: „O mein Herr, ist nicht dein Gesetz auch das der Kirche?“ Der Herr erwiderte: „Es war mein Gesetz, solange es die Meinen lasen, und es um meinetwillen lasen. Aber nun ist es nicht mehr das meine, denn es wird in den Häusern der Spieler gelesen, die mit bunten Würfeln spielen; für die kleine Gerechtigkeit, die sie im Gesetz der Kirche finden, erwerben sie sich eine große Geldsumme. Das Gesetz wird nicht mehr um meiner Ehre willen gelesen, sondern in der Absicht, dass man sich Gelder zuschanzt. Aber in den Spielkasinos gibt es gewöhnlich Dirnen und Weintrinker. Solche Leute lesen nun mein Gesetz – sie werden jetzt weise genannt, aber sie sind wahrhaftig töricht.

Denn wie sind Dirnen im Allgemeinen? Sicher frech in ihren Worten, leichtfertig in ihren Sitten, hübsch im Gesicht und fein geschmückt in Kleidern. So sind die, die mein Gesetz jetzt lesen und lehren. In ihren Worten liegt Unanständigkeit, und niemals öffnet sich ihr Mund zu meiner Verkündigung, nie zu meinem Lob. In ihren Sitten sind sie leichtfertig, so dass sich sogar Laien ihres Wandels schämen, und sie stürzen nicht nur sich selber ins Verderben, sondern verleiten durch ihr Beispiel auch andere zur Sünde. Sie wollen nichts anderes, als von der Welt gesehen und gepriesen zu werden, in ihren prächtigen Kleidern stattlich und geehrt dahinzuschreiten und Reichtümer und Ehrenerweise zu gewinnen.

Aber meine Worte und Gebote sind ihnen bitter; mein Leben und mein Weg sind ihnen gleichgültig. Ihr Wandel und ihre Lebensart stinken mir wahrhaftig wie eine Hure. Denn wie die Hure schlimmer und verwerflicher als andere Frauen erscheint, so sind sie mir auch mehr verhasst als andere. Sie sagen nämlich, dass sie das Gesetz kennen und prahlen auch damit, aber sie benutzen es dazu, andere zu betrügen und ihrer Lust zu frönen. Und in meinem Hause, wo das Gesetz gelesen wird, sind Weintrinker und Lebemänner, die sich rühmen, andere an Schlechtigkeit zu übertreffen und die Natur zur Verschwendung zu reizen.
So sind nun die Herren des Gesetzes. Sie freuen sich über den Überfluss, schämen sich ihrer Ausschweifungen kaum und machen sich wenig Sorgen über die Sünden anderer. Aber wenn sie mein Gesetz genau lesen würden, würden sie finden, dass sie enthaltsamer und demütiger als andere sein sollten und mehr als andere verpflichtet, tugendhaft zu leben.

Ich bin wie ein mächtiger Herr, der die Schafe aus vielen Dörfern liebt und sich doch, obwohl er mächtig ist, kein anderes Schaf aus einem anderen Dorf aneignet, als das, das er zu Recht besitzt. So bin ich; obwohl ich der Schöpfer aller Dinge und am allermächtigsten bin, nehme ich doch nur die zu mir, die ich zu Recht besitze, und die aus Liebe fühlen, dass sie mein sind. Doch kann der, der von mir abgeirrt ist, aber zu mir zurückkehren will und meine Stimme hören will, gerettet werden.

Sollte nicht ein Lamm, das sich vor der eigenen Herde verirrt hat und in eine andere geraten ist, schnell zur Mutter eilen, wenn es ihr Blöken hört? Und ebenso eilt die Mutter, wenn sie die Stimme ihres Jungen hört, dem Jungen mit allem Eifer entgegen; wenn sie frei ist, kann sie weder Mühe noch Plage daran hindern, herbei zu springen. So nehme ich, der Schöpfer aller Dinge, den willig auf, der meine Stimme hört; froh eile ich ihm entgegen wie ein Vater, der über die Rückkehr seines verlorenen Sohnes jubelt, und wie eine Mutter, die sich über die Rückkehr ihres Kindes freut.

Erklärung
Dieser Mann war Propst in der St. Peterskirche und später Kardinal. Von ihm sagt Gottes Sohn: „Viele, die Gottes Almosenverteiler sind, sammeln Gottes Gaben für andere, denn von dem Kleriker gilt, dass das, was er über Nahrung, Kleidung und das Notwendige hinaus besitzt, das gehört nicht ihm, sondern den Armen. Deshalb ist der selig, der im Sommer das sammelt, wovon er im Winter leben wird. Sieh nun, wie gierig seine Angehörigen das verschlingen, was dieser gesammelt hat, während sie sich nicht um seine Seele kümmern. Doch weil er den guten Willen hatte, seine Güter zu verteilen, ist er dem nahe gekommen, was er begehrt hat, wenn er auch viel glücklicher geworden wäre, wenn er es zu seinen Lebzeiten verteilt hätte.