19. Kapitel

Der Mann, den du kennst, singt: „Erlöse mich, o Herr, von bösen Menschen!“ Seine Stimme ist in meinen Ohren wie der Klang von einem Rohr, ja die Rede seiner Lippen ist wie der Laut von zusammengeschlagenen Steinen. Wer könnte auf seine Stimme antworten, wenn man nicht weiß, was sie bedeutet? Sein Herz ruft wie mit drei Stimmen zu mir. Die erste sagt: „Ich will meinen Willen haben, ich will schlafen und aufstehen, wann es mir passt. Auf meinen Lippen sollen angenehme Worte sein; was angenehm und lieblich ist, soll in meinen Mund kommen.

Ich kümmere mich nicht darum, Sparsamkeit walten zu lassen, sondern ich suche die Sättigung meines Leibes; was der haben möchte, das will ich ihm zur Genüge geben. Ich will Geld in der Tasche haben, und weiche Kleider am Körper. Wenn ich das habe, dann habe ich meine Freude und was ich begehre; ja – das nenne ich Glück.“
Die andere Stimme ruft und sagt: „Der Tod ist nicht so schlimm, wie es gesagt wird, und das Gericht ist nicht so streng, wie es beschrieben wird. Die Prediger drohen mit vielen schweren Sachen, dass man sich besser in Acht nehmen soll, aber die Barmherzigkeit wird es ändern, dass die Vergeltung weniger schwer wird. Daher ist es mir angenehm, ja ganz herrlich, meinen eigenen Willen in diesem Leben zu haben. – Die Seele kann gehen, wohin sie mag.“

Die dritte Stimme ruft und sagt: „Gott hätte mich nicht geschaffen, wenn er mir nicht das Himmelreich geben wollte. Er hätte nicht gelitten, wenn er mich nicht in das himmlische Vaterland führen wollte. Warum wollte er so bittere Qualen leiden? Wer hat ihn gezwungen, und was hat es genützt? Ich habe ja nur davon reden hören. Ich sehe seine Güte nicht. Ob es glaubwürdig ist oder nicht? Das weiß ich nicht. Wenn ich meinen Willen habe, so weiß ich, dass das eine Freude ist, und das will ich gerne statt des Himmelreiches haben.“

Sieh, so ist sein Denken und sein Wille. Deshalb klingt mir seine Stimme wie der Klang von zusammengeschlagenen Steinen in die Ohren. Aber auf die erste Stimme seines Herzens will ich die Antwort geben: Mein Freund, dein Weg führt nicht zum Himmelreich, und der Gedanke an mein Leiden behagt dir nicht. Daher steht dir die Hölle offen, denn dein Leben liebt das Niedrigste, und dein Weg führt hinunter in die Tiefe.“
Auf die andere Stimme will ich dir antworten: „Mein Sohn, der Tod wird für dich schwer und das Gericht unerträglich sein. Es wird dir auch unmöglich sein, dem zu entgehen, und du wirst bitter leiden müssen, wenn du dich nicht besserst.“

Auf die dritte Stimme deines Herzens will ich dir antworten: Mein Bruder – alles, was ich getan habe, das tat ich aus Liebe zu dir, damit du mir gleich wirst, und um dich von deiner Verirrung zu mir zurück zu bringen. Aber nun ist meine Liebe in dir erloschen, meine Taten kommen dir mühsam vor, meine Worte scheinen dir töricht, mein Weg schwer. Deshalb erwartet dich bittere Pein und die Gesellschaft der Teufel, wenn du dein Herz nicht zum Besseren änderst. Mir, deinem mildesten Herrn und deinem Schöpfer, kehrst du ja den Rücken zu und nicht das Gesicht. Du liebst meinen Feind, um mich zu verschmähen. Du trittst mein Feldzeichen mit Füßen und richtest frech die Banner meines Feindes auf.“

Sieh, wie die, die scheinbar die Meinen sind, vor mir stehen! Sieh, wie sie sich von mir abgewendet haben! Das sehe ich und ertrage es geduldig. Aber in ihrer Hartherzigkeit wollen sie nicht beachten, was ich für sie getan habe, und wie ich für sie Einstand. Ich bin auf drei Arten für sie eingetreten. Erstens als ein Mensch, dessen Auge von dem schärfsten Messer durchbohrt wurde. Zweitens als ein Mensch, dessen Herz von einem Schwert durchbohrt ist. Drittens als ein Mensch, dem alle Glieder vor der Bitterkeit der bevorstehenden Pein erschlafften.

Ja, so habe ich vor ihnen gestanden. Was bedeutet das Auge, wenn nicht meinen Leib? Die Pein war für ihn so bitter, wie ein Stich ins Auge, doch habe ich ihn ertragen, weil meine Liebe so groß war. Was bedeutet das Schwert, wenn nicht den Schmerz meiner Mutter, die mein Herz mehr betrübte, als…[1]
Drittens zitterten alle meine Eingeweide und Glieder im Leiden. So stand ich vor ihnen; das litt ich ihretwegen. Aber sie verachten all dies und vergessen es, so wie ein schlechter Sohn seine Mutter vergisst. War ich nicht für sie wie eine Mutter, die ein Kind in ihrem Schoße trägt? In der Stunde der Entbindung wünscht sie, dass das Kind lebendig aus ihrem Schoß hervorgehen möge, und wenn das Kind richtig getauft worden ist, achtet sie wenig auf ihren eigenen Tod.

So habe ich mit dem Menschen gehandelt. Wie eine Mutter habe ich den Menschen durch mein Leiden aus dem Dunkel des Todesreiches an den ewigen Tag geboren. Ich trug ihn sozusagen mit großer Mühe im Mutterleib, während ich all das erfüllte, was prophezeit worden ist. Ich habe ihn mit meiner Milch genährt, als ich ihm meine Worte brachte und ihm die Gebote des Lebens gab. Aber wie ein schlechter Sohn den Schmerz seiner Mutter vergisst, so verachtet mich jetzt der Mensch wegen meiner Liebe und erzürnet mich. Für den Schmerz in meinem Mutterleib lässt er mich weinen, legt Krankheit auf meine Wunde und reicht mir Steine, um meinen Hunger zu stillen, und Schlamm, um meinen Durst zu stillen.

Aber was ist der Schmerz, den mir der Mensch bereiten kann, mir, der ich nun nicht mehr betrübt werden oder leiden kann, und der in Ewigkeit Gott bleibt? Ja, der Mensch fügt mir sozusagen Schmerz zu, wenn er sich durch die Sünde von mir trennt. Sicher kann mich eigentlich kein Schmerz treffen, aber ich bin doch traurig, so wie jemand über den Fall eines anderen traurig ist.

Der Mensch machte mir früher Sorge, als er nicht wusste, was Sünde ist oder wie ernst sie ist, und als er noch nicht die Propheten oder das Gesetz hatte, und noch nicht die Worte meines Mundes hörte. Aber jetzt bringt er mich über die Sorge hinaus sozusagen zum Weinen (obwohl ich unveränderlich bin), da er – obwohl er meine Liebe und meinen Willen kennt – gegen meine Gebote handelt und frech gegen den Verstand seines Gewissens handelt.

Deshalb sinken die vielen, nachdem sie meinen Willen kennen gelernt haben, tiefer in die Hölle hinab, als wenn sie meine Gebote nicht erhalten hätten. Und der Mensch hat mir sozusagen Wunden zugefügt (obwohl ich, Gott, nicht verletzt werden kann), als er Sünde auf Sünde häufte. Aber nun bereiten sie mir sozusagen außer den Wunden eine schädliche Krankheit zu, indem sie nicht nur die Sünden vervielfachen, sondern sich geradezu damit grosstun und keine Reue über sie empfinden.

Der Mensch gibt mir außerdem Steine für Brot und Schlamm, um meinen Durst zu löschen. Was ist das Brot, was ich begehre, wenn nicht die Vervollkommnung der Seelen, die Zerknirschung des Herzens, die Sehnsucht nach dem Göttlichen und die in Liebe brennende Demut? Stattdessen gibt mir der Mensch nun Steine durch die Härte seines Herzens. Er stillt meinen Durst durch seine Unbußfertigkeit und sein Vertrauen auf eitle Dinge mit Schlamm.

Sie lehnen es ab, zu mir zurückzukehren, obwohl sie ermahnt und dazu gedrängt werden; sie lehnen es ab, auf mich zu schauen und meine Liebe zu bedenken. Deshalb kann ich mit Recht darüber klagen, dass ich sie wie eine Mutter mit Schmerzen zum Licht geboren habe, aber dass sie lieber im Dunkeln verharren wollen. Ich habe sie ernährt, ja nähre sie jetzt noch mit der Milch meiner Lieblichkeit, und doch vergessen sie mich. Daher fügen sie frech den Schlamm der Bosheit dem Schmerz der Unwissenheit hinzu.

Mich, den sie mit den Tränen der Tugenden erquicken sollten, sättigen sie mit Sünde. Statt der Süßigkeit jeder Sitten bieten sie mir Steine an. Deshalb werde ich, wenn die Zeit da ist, wie ein gerechter Richter, der Geduld in seiner Gerechtigkeit hat, Barmherzigkeit in seiner Gerechtigkeit und Weisheit in seiner Barmherzigkeit hat, gegen sie aufstehen und ihnen vergelten, wie sie es verdient haben, und sie werden meine Herrlichkeit über, unter und außerhalb des Himmels sehen, und an jedem Platz und auf allen Hügeln und in allen Tälern. Ja auch die, die verdammt werden sollen, werden sie sehen und sie mit Scham und Schande fühlen.“

Erklärung
Dieser Mönch, der das St. Laurentius-Kloster verlassen hat, wurde von seinen Feinden ermordet und in der St. Laurentius-Kirche begraben. Aber man hörte, wie der hl. Laurentius zum Richter sagte: „Was hat dieser Prahlhans unter meinen Auserwählten zu suchen, deren Leiber ihr Blut für dich vergossen haben? Hat nicht dieser Mönch seine Wollust geliebt?“

Und gleich sah man seinen Körper mit dem übelsten Gestank und Schrecken aus dem Grab geworfen werden. Dann sagte der Richter zu der Seele, die man vor ihm stehen sah: „Geh, du elende, zu den Unbeschnittenen und Missgeburten – denen sollst du folgen, weil du die Stimme deines Vaters nicht hast hören wollen.“ So verschwand die Vision.

[1]. Som bedrövade mitt hjärta mera än min egen; unverständlich.