23. Kapitel

Maria spricht zum Sohn und sagt: „Gesegnet seist du, mein Sohn! Ich bitte darum, dass du mit dem Räuber Mitleid haben möchtest, für den deine Braut (Birgitta) betet und um ihn weint.“
Der Sohn erwidert: „O Mutter, warum bittest du für ihn? Er hat ja drei Diebstähle begangen. Erstens hat er meine Engel und Auserwählten beraubt. Zweitens hat er die Leiber vieler Menschen geraubt, denn er hat ihre Seelen vom Körper getrennt, bevor die Zeit dafür da war. Drittens hat er vielen unschuldigen Menschen ihre Güter geraubt.

Er hat erstens die Engel geraubt, denn er hat die Seelen von vielen, die in die Gesellschaft der Engel aufgenommen werden sollten, von ihnen getrennt, während er ihnen mit liederlichen Worten und schlechten Taten und Beispielen Gelegenheit zum Bösen gab und sie dazu veranlasste, und weil er die Bösen in ihrer Bosheit duldete, obwohl er sie von Rechts wegen hätte strafen sollen.

Zweitens hat er in seinem Zorn befohlen, dass viele Unschuldige getötet werden sollten. Drittens hat er sich unrechtmäßig die Güter der Unschuldigen angeeignet und hat den Elenden unerträgliche Steuern aufgebürdet. Außer diesen drei Dingen hat er drei andere schlimme Sachen: Erstens eine maßlose weltliche Gewinnsucht. Zweitens ein nicht enthaltsames Leben, denn obwohl er in einer Ehe lebt, hält er sie doch nicht aus gottesfürchtiger Liebe, sondern um seine Lust zu befriedigen. Drittens ist er hochmütig, so dass er niemanden für seinesgleichen hält.

Sieh, so ist der, für den du bittest. Du siehst alle Gerechtigkeit in mir, und was einem jeden zukommt. Als die Mutter des Jakobus und Johannes zu mir trat und bat, dass der eine von ihnen an meiner rechten Seite und der andere an meiner linken Seite sitzen sollte, da habe ich ihr geantwortet, dass der, der mehr arbeitet und sich mehr demütigt, an meiner rechten und an meiner linken Seite sitzen sollte.

Wie sollte es also jemandem zukommen, bei mir zu sitzen und mit mir zu sein, wenn er nichts mit mir oder für mich arbeitet, sondern eher gegen mich?“
Die Mutter erwiderte: „Gesegnet seist du, mein Sohn, voller Gerechtigkeit und Barmherzigkeit! Ich sehe deine Gerechtigkeit, schrecklich wie ein Feuer, stark wie ein Berg, und niemand wagt, sich ihm zu nahen. Auf der anderen Seite sehe ich deine milde Barmherzigkeit, und zu der, mein Sohn, rede ich, und zu der trete ich hin. Denn wenn ich auch nur wenig Gerechtigkeit für den Räuber vorbringen kann, kann er doch dadurch keineswegs gerettet werden, wenn deine große Barmherzigkeit nicht für ihn eintritt.

Er ist sicher wie ein Kind, das – wenn es auch einen Mund, Augen, Hände und Füße hat, kann es doch mit dem Mund nicht sprechen, oder mit den Augen zwischen Feuer und der Klarheit der Sonne unterscheiden, oder mit den Füßen gehen und mit den Händen arbeiten. So ist dieser Räuber. Er ist ja von Geburt an auf die Werke des Teufels hin aufgewachsen. Seine Ohren blieben verhärtet, um das Gute zu hören, seine Augen wurden trübe, um die Zukunft zu beachten, sein Mund blieb verschlossen, dich zu preisen, und seine Hände blieben allzu schwach, um Gutes für Gott zu wirken, so dass alle Tugend und alle Güte wie tot für ihn waren.

Doch stand er mit einem Fuß wie auf zwei Leitern. Dieser Fuß war sein Wunsch und sein Gedanke, indem er lachte und wünschte: „O dass ich jemanden finden könnte, der mir sagte, wie ich mich bessern könnte und wie ich meinen Gott besänftigen könnte, denn auch, wenn ich sterben müsste, würde ich das gern tun.“
Die erste Leiter bestehend darin, dass er ständig fürchtete und sich Gedanken machte, wie hart die ewige Qual sei. Die andere Leiter war der Schmerz darüber, das Himmelreich zu verlieren. Also, mein liebster Sohn, erbarme dich um deiner Güte und meiner Bitten willen über ihn, der ich dich in meinem Mutterleib getragen habe!“

Der Sohn erwiderte: „Gesegnet seist du, liebste Mutter! Deine Worte sind voll Weisheit und Gerechtigkeit, und weil alle Gerechtigkeit und Barmherzigkeit in mir ist, habe ich dem Räuber schon mit drei guten Dingen für die drei guten Dinge vergolten, die er für mich getan hat. Denn weil er die Absicht hatte, sich zu bessern, habe ich ihm meinen Freund geschickt, der ihm den Weg des Lebens gezeigt hat. Für das zweite gute Ding, nämlich sein ständiger Gedanke an die ewige Strafe, habe ich ihm ein größeres Verständnis für die ewige Pein gegeben, als er sie vorher hatte, so dass er in seinem Herzen verstünde, wie bitter die ewige Qual ist. Für das dritte gute Ding, nämlich sein Schmerz darüber, das Himmelreich zu verlieren, habe ich seine Hoffnung erleuchtet, so dass er jetzt in richtigerer Weise als früher hofft und mich auf eine weisere und klügere Art fürchtet, als früher.“

Da sagte die Mutter wieder: „Gesegnet seist du, mein Sohn, von allen geschaffenen Wesen im Himmel und auf Erden, dass du dem Räuber in deiner Gerechtigkeit diese drei Dinge vergolten hast. Daher bitte ich dich jetzt, dass du ihm auch deine Barmherzigkeit schenkst, denn du tust nichts ohne Barmherzigkeit. Erweise ihm also in deinem Erbarmen eine Gnade um meiner Bitten willen und eine andere um deines Dieners willen, der mich bittet, für den Räuber zu beten, und eine dritte Gnade um der Tränen und Gebete meiner Tochter willen!“

Der Sohn erwiderte ihr: „Gesegnet seist du, liebste Mutter, die Frau der Engel und Königin aller Geister! Deine Worte sind mir lieb wie der edelste Wein, angenehmer als alles, was man denken kann, und erprobt in aller Weisheit und Gerechtigkeit. Gesegnet sei auch dein Mund und deine Lippen, von denen alle Barmherzigkeit für die elenden Sünder ausgeht! Du wirst als Mutter der Barmherzigkeit gepriesen und bist es, denn du siehst das Elend aller Menschen und bewegst mich zur Barmherzigkeit. Begehre also, was du willst! Deine Liebe und dein Gebet kann nicht vergebens sein.“

Da antwortete die Mutter: „Mein Herr und mein Sohn, dieser Räuber schwebt in großer Gefahr. Er steht nämlich mit einem Fuß auf zwei Leitern. Schenk ihm daher, damit er fester stehen kann, das, was mir am allerliebsten ist, nämlich deinen allerheiligsten Leib, den du von mir angenommen und zu deiner Gottheit hinzugefügt hast! Dieser dein Leib ist die beste Hilfe für die Kranken; er gibt den Blinden das Sehen, den Tauben das Gehör, den Lahmen das Gehen und den Händen Arbeitskraft.

Er ist auch das stärkste und angenehmste Pflaster; die Kranken genesen dadurch rasch. Gib ihm das also, so dass er sich geholfen fühlt und sich mit der Glut der Liebe darüber freut. Zweitens bitte ich, dass du ihm zeigen mögest, was er tun soll, und wie er dir gefallen kann. Drittens bitte ich, dass ihm Ruhe von seinem fleischlichen Brand gegeben wird, um der Gebete derer willen, die dich seinetwegen anrufen.“

Der Sohn erwiderte: „Liebste Mutter, deine Worte sind in meinen Ohren lieblich wie Honig, aber weil ich gerecht bin und dir auch nichts abschlagen kann, will ich wie ein weiser Herr betreffs deiner Bitte mit mir selbst zu Rate gehen – nicht, weil sich in mir irgendetwas ändert, oder weil du nicht alles von mir siehst und weißt, - nein, ich zögere nur wegen meiner hier anwesenden Braut, damit sie meine Weisheit auch versteht.“