30. Kapitel

Der Sohn sprach zur Braut: „Obwohl ich alles weiß, sollst du mir doch mit deinen eigenen Worten sagen, wie dein Wille ist.“ Sogleich antwortete der Engel, der ihr als Beschützer gegeben war, im Namen von Birgitta: „Ihr Wille ist so, wie geschrieben steht: „Dein Wille geschehe im Himmel wie auf Erden.“
Der Herr antwortete: „Das ist ja das, was ich fordere und will; das ist der Dienst, der mir am meisten wohlgefällt. Du, meine Braut, sollst also wie ein fest verwurzelter Baum sein, der sich nicht vor drei Kommenden bösen Dingen zu fürchten braucht. Erstens kann der Baum, wenn er fest verwurzelt ist, nicht vom Maulwurf untergraben werden. Zweitens wird er nicht von Winden umgeweht. Drittens vertrocknet er nicht in der Glut der Sonne.

Dieser Baum ist deine Seele. Seine wichtigste Wurzel ist der gute, nach Gottes Willen geschaffene Wille. Von der Wurzel dieses Willens gehen so viele Tugenden aus, wie der Baum Wurzel hat. Die wichtigste Wurzel, von der die anderen Wurzeln sich ausbreiten, muss stark und dick und außerdem tief in der Erde verwurzelt sein. So muss dein Wille stark sein in Geduld, dick in der göttlichen Liebe, tief in der wahren Demut verwurzelt. Wenn dein Wille in dieser Weise verwurzelt ist, braucht er den Maulwurf nicht zu fürchten.

Was bedeutet der Maulwurf, der unter der Erde kriecht, anderes als den Teufel, der die Seele unsichtbar umkreist und sie in Unruhe versetzt? Wenn der Wille unbeständig ist und keine Geduld hat, nagt er seine Wurzeln mit seinen Bissen kaputt und spaltet sie, indem er schlechte Begierden und Gedanken in dein Herz sendet, deinen Willen zu vielerlei Dingen verleitet und dich dazu bringt, etwas zu begehren, was gegen meinen Willen ist. Wenn die Hauptwurzel so beschädigt ist, werden auch alle anderen Wurzeln beschädigt und der Stamm verdorrt.

Dies bedeutet, dass – wenn dein Wille und Begehren verdorben werden, dann werden auch die anderen Seelenkräfte befleckt und missfallen mir. Ja, wegen des bösen Willens hättest du verdient (sofern er sich nicht durch Buße bessert), der Herrschaft des Teufels unterworfen zu werden, auch wenn der Wille nicht in der Tat verwirklicht wird.
Wenn die Wurzel des Willens dagegen stark und dick ist, dann kann der Maulwurf sicher daran nagen, aber sie nicht zerschneiden, und nach der Knabberei wächst die Wurzel von neuem nach und wird noch stärker. Wenn dein Wille also immer stark im Unglück und bei Misserfolgen ist, so kann der Teufel sicher davon nagen, d.h. schlechte Gedanken eingeben – aber wenn du dagegen angehst und ihm nicht mit deinem Willen zustimmst, so führt das für dich nicht zur Strafe, sondern es wird für dich wegen deiner Geduld zu einem umso größeren Verdienst und zur Vervollkommnung deiner Tugenden.

Wenn es dir passieren sollte, dass du durch Ungeduld oder ein unvorhergesehenes Ereignis in Sünde gerätst, stehe dann schnell durch Reue und Buße wieder auf. Dann werde ich dir deine Sünden vergeben und dir Geduld und Kraft schenken, den Eingebungen des Teufels standzuhalten.
Zweitens braucht der Baum, wenn er fest verwurzelt ist, nicht den Ansturm der Winde zu fürchten. Das bedeutet, dass – wenn dein Wille sich nach meinem richtet – du dir keinen Kummer über weltliches Unglück, das wie ein Wind ist, zu machen brauchst, sondern bei dir denken: „Vielleicht ficht es mich an, Widerwärtigkeiten zu leiden.“ Du brauchst über die Verachtung und die Schmach nicht betrübt zu werden, die du leiden musst, denn ich kann erhöhen und erniedrigen, wen ich will.

Du brauchst auch nicht über körperliches Leiden traurig zu sein, denn ich kann schlagen und heilen, und ich tue nichts ohne Ursache. Der, dessen Wille gegen mich gerichtet ist, der leidet hier in dieser Welt, weil er das nicht verwirklichen kann, was er will, und deshalb wird er im kommenden Leben für seinen bösen Willen gestraft werden. Aber wenn er mir seinen Willen übergeben würde, würde er leicht alles ertragen, was auf ihn zukommt.
Drittens braucht ein fest verwurzelter Baum nicht die starke Sonnenhitze zu fürchten, d.h. die, deren Wille vollkommen ist, verdorren nicht in ihrer Gottesliebe zugunsten der Welt und werden nicht durch eine schlechte Eingebung von der Gottesliebe abgelenkt. Aber die, die unbeständig sind, deren Seelen werden rasch vom Guten, das sie begonnen haben, und von der Gottesliebe weggezogen – entweder durch die Versuchung des Teufels oder durch ein weltliches Unglück oder durch die Liebe zur Welt. Ja, so geht es zu, wenn sie unnütz eitle Dinge haben wollen.

Der Mann, an den du denkst, ist kein guter Baum. Seine wichtigste Wurzel ist geborsten, nämlich die Bitte: „Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden.“ Er hat die Strenge des enthaltsamen Lebens auf sich genommen, aber die Glut der Liebe ist bei ihm erloschen. Ich habe ihm wegen der Bitten meiner Mutter geholfen, den er besaß drei Dinge: Armut an Gütern, Krankheit in den Gliedern und Mangel an Wissen. Es war mein Wille, dass – wenn er in diesen drei Dingen geduldig ausharren würde, so würde er ewigen Überfluss, ewige Gesundheit und Schönheit und auch die Kenntnis von Gott und das Schauen Gottes erhalten.

Ich habe ihm geholfen, das dadurch zu erhalten, dass ich ihm Stärke in geistlichen Dingen gab und dass ich ihn verstehen ließ, was ich wollte. Aber sein Wille steht im Widerstreit zu meinem. Matt und gleichgültig möchte er Hilfe haben. Er hat nämlich Angst vor Armut, aber nicht meinetwegen, sondern um seiner selbst willen. Er hat auch Angst vor Krankheit, denn er fürchtet sich davor, schmerzen zu leiden. Er ängstigt sich auch um sein geringes Wissen, denn er fürchtet, von anderen verachtet zu werden.

Daher erhielt er durch mein heimliches Wissen nach seinem Willen Hilfe in drei Dingen, die ihm Kummer machten: Er hat nämlich jetzt größeren Überfluss als vorher, als er nur das Lebensnotwendige für den Körper hatte; er hat auch größeres Wissen und größeres Ansehen. Deshalb hat er Anlass, wenn ihm der teuflische Maulwurf mit seiner Versuchung naht, ein Fallen zu befürchten, denn der Wille, die wichtigste Wurzel, ist geborsten. Wenn die Weltliebe in ihm warm wird, kommt er bald dazu, im Guten zu vertrocknen und zur Gewinnsucht überzugehen.

Aber wenn ihn Trübsal trifft, dann ängstigt er sich auf jede Weise wie ein Baum, der vom Wind gepeitscht wird, - in nichts beständig, sondern missvergnügt und über alles klagend. Wenn ihm Ehre erwiesen wird, dann spürt er nicht weniger Kummer; er grübelt dann darüber, wie er allen gefallen kann, wie er von allen „gut“ genannt werden kann, und wie er allem, was eintrifft, in kluger Weise begegnen kann. Sieh, wie viel Unbeständigkeit von der Unbeständigkeit der beschädigten Wurzel herrührt!

Aber was soll ich tun? Ich bin wie ein guter Gärtner, in dessen Garten es viele unfruchtbare Bäume und wenige gute gibt. Wenn all die guten Bäume abgeschlagen werden, wer würde dann den Garten noch betreten? Aber wenn alle unfruchtbaren Bäume mit den Wurzeln ausgerissen würden, würde der Garten durch alles Graben in der Erde sehr hässlich aussehen. Wenn ich also alle guten Menschen vom Fleisch befreien würde und sie zu mir heimholen würde, wer würde dann noch in die heilige Kirche kommen? Und wenn ich alle Bösen in einem Augenblick wegnehmen würde, dann würden viele hässliche Grabungen im Garten erfolgen, und alle würden mir dann aus Furcht vor Strafe und nicht aus Liebe dienen.

Daher will ich handeln wie ein guter Pfropfer, der einen Sprössling auf den dürren Stamm setzt, und dann, wenn der Spross angewachsen und richtig fest verwurzelt ist, werde ich den dürren Ast ins Feuer werfen. So werde ich verfahren: Ich werde eine schöne Pflanzung mit Sprösslingen der Tugend anlegen, und wenn diese herangewachsen sind, werde ich das Vertrocknete abhauen und es ins Feuer werfen, und ich werde meinen Garten säubern, so dass nichts Unfruchtbares stehen bleibt, was die neuen fruchtbaren Pflanzen behindern könnte.“

Erklärung
Über einen Prior, der bei Christi Worten von Reue ergriffen und dann fromm wurde. Dieser Prior sah, wie Christus ihm die Hand entgegenstreckte, und hörte ihn sagen: „In diesen festen Knochen haben sich Nägel gebohrt.“ Als dieser Prior tot war, sagte Christus: „Dieser Freund von dir, der Bruder, ist nicht tot, sondern lebt, denn mit seinen Taten hat er den Brudernamen erfüllt. Aber nun kannst du fragen: „Wer ist ein wahrer Bruder?“ Ich antworte dir: Der ist ein wahrer Bruder, der all das Seine auf dem Rücken trägt, der nichts anderes begehrt, als Gott, und der weiß, mit dem zufrieden zu sein, was notwendig ist, der mich, den Menschgewordenen Gott, als seinen Bruder anerkennt, und mich wie seinen Bruder liebt.“

Als derselbe Bruder es schwer hatte, an die Gnade zu glauben, die Frau Birgitta verliehen wurde, sah er diese Frau in einer Ekstase und Feuer vom Himmel auf sie Niederströmen. Er wachte auf, wunderte sich und nahm fälschlich an, dass es ein Blendwerk sei. Er schlief wieder ein und hörte da deutlich, wie eine Stimme zweimal sagte: „Niemand kann dieses Feuer hindern, vorzudringen. Ich, der die Macht selbst ist, werde dieses Feuer nach Ost und West, nach Nord und Süd aussenden und werde damit viele erleuchten.“ Darauf glaubte dieser Bruder an die Offenbarungen, verteidigte sie, erfüllte den Namen eines Bruders mit Taten und erhielt ein gutes Ende.

Dieser Bruder lag drei Jahre krank danieder. Sein Fuß ging in Verwesung über, und das Mark floss heraus. Er war aber so geduldig, dass er Jesus immer in Herz und Mund hatte, indem er sagte: „Jesus, du würdigster Gott, erbarme dich über mich! Als er dem Tode nahe war, rief er: „Ich sehne mich, ich sehne mich! O du meine Sehnsucht, komm!“
Als man ihn fragte, wonach er sich sehnte, antwortete er: „Gott, und vor Sehnsucht nach ihm und seinem Anblick freue ich mich und juble, so dass ich gern noch hundert Jahre in dieser Krankheit leben und nicht klagen will.“ Um Mitternacht jubelte dieser Bruder und starb so in den Armen der Brüder.

Am nächsten Sonntag wurde Frau Birgitta im Geist entrückt und hörte: „O Tochter, nachdem Herren und Lehrer nicht demütig zu mir kommen wollen, werde ich Arme und Ungebildete im Himmelreich versammeln. Dieser Arme und Ungebildete hat heute eine Weisheit gefunden, die die von Salomo übertrifft, er hat Reichtümer gefunden, die nicht veralten, und eine Krone, die immer noch vermehrt werden und nie enden soll.
Sage auch dem Bruder, der ihm, um Buße zu tun, in seiner Krankheit diente, dass er als Belohnung für diesen Dienst von Versuchungen befreit werden soll und Stärke zu geistlichen Dingen gewinnen, ein frohes Ende und in der Ruhe des Lazarus erwachen soll.“