39. Kapitel

Ein Teufel zeigte sich am göttlichen Richterstuhl mit der Seele eines Verstorbenen, der zitterte, wie ein zitterndes Herz. Der Teufel sagte zum Richter: „Sieh diese Beute! Dein Engel und ich folgten dieser Seele von ihrem Ursprung bis zum Ende, aber er, um sie zu schätzen, und ich, um ihr zu schaden. Beide jagten wir sie wie Jäger, aber zuletzt geriet sie in meine Hände. Um sie zu gewinnen, bin ich so eifrig und heftig wie ein reißender Strom, der nicht aufzuhalten ist, wenn er nicht auf ein Hindernis stößt.

Das ist deine Gerechtigkeit, aber sie hat sich gegenüber dieser Seele noch nicht gezeigt. Daher habe ich sie auch noch nicht mit Sicherheit. Ich begehre sie so brennend, wie ein von Hunger abgezehrtes Tier, das vor Hunger sogar die eigenen Glieder frisst. Weil du ja ein gerechter Richter bist, sollst du also ein gerechtes Urteil über diese Seele fällen!“

Der Richter antwortete: „Warum ist sie gerade in deine Hände gefallen, und warum warst du ihr näher als mein Engel?“ Der Teufel erwiderte: „Weil ihre Sünden zahlreicher waren, als ihre guten Werke.“ Der Richter sagte: „Zeig mir, wie die Werke sind!“ Der Teufel entgegnete: „Ich habe ein Buch voll mit ihren Sünden.“ Der Richter fragte: „Wie ist der Name dieses Buches?“ Der Teufel antwortete: „Sein Name ist „Ungehorsam“. In dem Buch sind sieben Kapitel enthalten, und jedes Kapitel hat drei Spalten. Jede Spalte hat mehr als tausend Worte. Kein hat weniger als tausend, aber manche haben noch viel mehr.“ Der Richter sagte: „Sag die Namen dieser Kapitel, denn obwohl ich alles weiß, will ich doch, dass du redest, damit dein Wille und meine Güte anderen offenbar werden.“

Der Teufel antwortete: „Der Name des ersten Kapitels ist Hoffart, und darin gibt es drei Spalten. Die erste ist geistige Hoffart in Gedanken, denn er war hochmütig über sein gutes Leben, von dem er glaubte, es sei besser, als das von anderen. Er war auch eingebildet auf seinen Verstand und auf seine Gedanken, die seiner Meinung nach klüger waren als die von anderen.
Die zweite Spalte ist, dass er hochmütig über die Reichtümer war, die ihm verliehen waren, über seine Diener, seine Kleider und anderes Eigentum. Der dritte ist, dass er hochmütig über die Schönheit seiner Glieder und über sein vornehmes Geschlecht und seine Taten war. Und in diesen drei Spalten standen unzählige Worte, wie du selbst am besten weißt.

Das zweite Kapitel handelt von seiner Lüsternheit. Es hatte drei Spalten. Die erste war geistig, denn er glaubte nicht, dass seine Sünden so schwer seien, wie gesagt wurde, und er begehrte in unwürdiger Weise das Himmelreich, das nur dem zusteht, der vollkommen rein ist. Die zweite war, dass er die Welt mehr begehrte als notwendig war, und sein Wille ging nur darauf aus, seinen Namen und sein Geschlecht zu erhöhen, so dass er seine Erben aufziehen und sie mächtig machen könnte, aber nicht zu deiner Ehre, sondern zu Ehren der Welt. Die dritte Spalte besagte, dass er nach weltlicher Ehre trachtete, und danach, anderen überlegen zu sein. Und in diesen Spalten stehen – wie du selbst am besten weißt – unzählige Worte; die Worte, mit denen er nach Gunst und Freundschaft strebte, und mit denen er zeitliches Gut erwarb.

Das dritte Kapitel ist der Neid. Es hat drei Spalten. Die erste war in seinem Sinn, denn er beneidete heimlich alle die, die mehr besaßen oder größeres Glück als er selber hatten. Die zweite war, dass er aus Neid etwas von ihren Besitztümern nahm, die weniger hatten als er und sie doch mehr als er brauchten. Die dritte war, dass er aus Neid heimlich und offen seinem Nächsten durch seine Ratschläge schadete, sowohl mit Worten wie auch mit der Tat, sowohl durch sich selbst als durch seine Helfer, und andere dazu aufreizte, desselbe zu tun.

Das vierte ist die Gier. Davon gab es drei Spalten. Die erste war die sinnliche Gier, denn er wollte anderen solche Dinge nicht offenbaren, die er wusste, und durch die andere Trost oder Nutzen haben könnten – indem er bei sich dachte: „Was habe ich davon für Nutzen, dass ich dem einen oder anderen diesen Rat erteile? Was habe ich für Gutes davon, dass ich dem Menschen mit diesem Rat oder diesen Worten beistehe?“ Und so ging der in Not geratene betrübt von ihm vondannen, weder unterrichtet noch aufgeklärt, was er sehr gut hätte werden können, wenn der Mann den guten Willen gehabt hätte, ihn zu unterrichten.

Die zweite Spalte war, dass er – als er imstande war, Streitende zu versöhnen, das nicht tun wollte. Und als er Betrübte hätte trösten können, kümmerte er sich nicht darum, es zu tun. Die dritte Spalte war Geiz mit seinen Besitztümern, denn wenn er auch nur einen Pfennig in deinem Namen ausgeben musste, so war er ängstlich und bekümmert, aber er gab gern hundert für die Ehre der Welt aus. In diesen Spalten stehen unzählige Worte, wie du selbst am besten weißt, denn du weißt ja alles, und nichts kann vor dir verborgen bleiben, aber du zwingst mich mit deiner Macht, zu reden, weil du anderen dadurch nützen willst.

Das fünfte Kapitel handelt von Faulheit, und es hat drei Spalten. Erstens war er faul im Tun, wenn es darum ging, gute Werke zu deiner Ehre zu tun, und deine Gebote zu erfüllen. Denn um seinen Körper auszuruhen, vertrödelte er seine Zeit; der Nutzen und die Wollust seines Leibes war ihm nämlich am allerliebsten. Zweitens war er faul im Denken, denn als dein guter Geist seinem Herzen Reue oder eine geistliche Einsicht schenkte, schien ihm das sehr langweilig; er lenkte seinen Sinn von geistlichen Gedanken ab, und jede weltliche Freude schien ihm angenehm und lieb. Drittens war er faul mit dem Munde, d.h. zu beten und das auszusprechen, was anderen zum Nutzen gewesen und dir zur Ehre gereicht hätte – aber er war sehr eifrig, wenn es leichtfertige Reden betraf. Wie unzählig viele Worte es in diesen Spalten gibt, das ist nur dir bekannt.

Das sechste Kapitel war der Zorn. Es hatte drei Spalten. Die erste war, dass er auf seinen Nächsten zornig über Dinge war, die ihn selbst nichts angingen. Die zweite Spalte war, dass er in seinem Zorn seinem Nächsten mit Taten schadete und ihm in seinem Zorn sogar Dinge raubte, die ihm gehörten. Die dritte war, dass er durch seinen Zorn seinen Nächsten in Unruhe versetzte.

Das siebente Kapitel betraf seine Lust. Auch das hatte drei Spalten. Die erste handelte davon, dass er seinen Samen in ungehöriger und ungeordneter Weise vergoss. Denn obwohl er verheiratet war und sich nicht mit anderen Frauen versündigte, vergoss er seinen Samen doch durch unpassende Umarmungen und Worte und auch durch unanständiges Benehmen. Die andere war, dass er in hohem Maße leichtfertig mit Worten war. Er verleitete nämlich nicht nur seine Frau zu heißerer Lust, sondern verleitete durch seine Worte auch andere dazu, auf leichtfertige Dinge zu hören oder daran zu denken.

Die dritte Spalte besagte, dass er seinen Körper allzu lecker ernährte, indem er sich viele feine Gerichte zubereiten ließ, zu größerem Anreiz für den Körper, und um von den Menschen gelobt und groß genannt zu werden. Es gibt in diesen Spalten mehr als tausend Worte. Er saß ja längere Zeit bei Tisch, als er sollte, achtete nicht auf die Zeit, die ihm zur Verfügung stand, redete in unpassender Weise und nahm mehr zu sich, als die Natur es wollte. Sieh, Richter, nun ist mein Buch zu Ende! Sprich mir also diese Seele zu!“
Der Richter schwieg, aber die Mutter der Barmherzigkeit, die vorher längere Zeit abseits gestanden hatte, kam herbei und sagte: „Mein Sohn, ich wollte mit diesem Teufel über Gerechtigkeit reden.“ Der Sohn antwortete ihr: „Liebste Mutter, wenn dem Teufel nicht Gerechtigkeit verweigert wird, wie sollte sie dann dir verweigert werden, die du meine Mutter und Herrscherin der Engel bist? Du kannst alles und weißt alles in mir, aber du sprichst, damit meine Liebe anderen bekannt wird.“

Die Mutter sagte nun zum Teufel: „Ich befehle dir, Teufel, dass du mir auf drei Dinge antwortest, die ich dich frage. Wenn du das ungern tust, musst du das doch im Namen der Gerechtigkeit tun, denn ich bin deine Herrscherin. Sag mir: Kennst du alle Gedanken des Menschen?“
Der Teufel erwiderte: „Ich kenne nur die, die ich auf Grund des äußeren Verhaltens und seiner Veranlagung kenne, sowie die, die ich seinem Herzen selber eingebe, denn obwohl ich meine Würde verloren habe, ist doch von der Feinheit meiner Natur soviel Weisheit übrig geblieben, dass ich aus dem Verhalten des Menschen auf seinen Seelenzustand schließen kann – aber die guten Gedanken des Menschen kann ich nicht kennen lernen.“

Da sagte die milde Jungfrau abermals zum Teufel: „Sag mir, Teufel, wenn du es auch ungern tust – was ist es, das die Schrift aus deinem Buch auslöschen kann?“ Der Teufel antwortete: „Nichts kann sie auslöschen außer einem, und das ist die göttliche Liebe, denn für den, der diese Liebe in sein Herz erhält, für den wird gleich gelöscht, was über ihn in meinem Buch geschrieben steht, ein wie großer Sünder er auch sein mag.“

Die Jungfrau sagte zum dritten Mal: „Sag mir, Teufel, gibt es jemanden, der ein so unreiner Sünder oder so abgewandt von meinem Sohn ist, dass er nicht wieder Gnade erhalten kann, solange er auf Erden lebt?“ Der Teufel entgegnete: „Nein, niemand ist so sündig, dass er sich während seiner Lebenszeit nicht bessern kann, wenn er nur will, denn wenn jemand – mag er ein noch so großer Sünder sein – seinen bösen Willen in einen guten wandelt, wenn er von göttlicher Liebe ergriffen wird und darin verharren will – so können keine Teufel ihn behalten.“

Da sagte die Mutter der Barmherzigkeit zu den Umstehenden: „Am Ende seines Liebens wandte sich diese Seele an mich und sagte: „Du bist die Mutter der Barmherzigkeit und die, welche sich der Elenden erbarmt. Ich bin unwürdig, zu deinem Sohn zu beten, denn meine Sünden sind so schwer und so viele, und ich habe ihn sehr zum Zorn gereizt, indem ich meine Lust und die Welt mehr geliebt habe, als Gott, meinen Schöpfer.

Daher bitte ich, dass du dich meiner erbarmst, denn du verweigerst deine Barmherzigkeit keinem, der dich darum bittet. Deshalb wende ich mich an dich, und ich verspreche dir, dass ich mich bessern will, wenn ich leben darf, und meinen Willen auf deinen Sohn richte, und nichts anderes lieben will, als ihn.
Aber vor allem sorge ich mich und weine nun darüber, dass ich deinem Sohn, meinem Schöpfer zu Ehren nichts Gutes getan habe. Deshalb bitte ich dich, mildeste Frau, erbarme dich über mich, denn ich habe niemanden außer dir, zu dem ich meine Zuflucht nehmen könnte.“

Mit solchen Worten und solchen Gedanken kam diese Seele zuletzt zu mir. Hätte ich sie da nicht hören sollen? Wer verdient es nicht, erhört zu werden, wenn er einen anderen von ganzem Herzen anruft und mit dem festen Willen anruft, sich zu bessern? Wie viel mehr muss ich, die Mutter der Barmherzigkeit, doch die erhören, die zu mir rufen?“ Der Teufel antwortete: „Von einem solchen Willen habe ich nichts gewusst. Aber wenn es so ist, wie du sagst, so magst du das mit offenbaren Gründen beweisen.“

Die Mutter gab zur Antwort: „Du bist nicht wert, dass ich dir antworte, aber damit das, was hier gezeigt wird, anderen zugute kommt, gebe ich dir Antwort. Elender, du sagtest kürzlich, dass nichts anderes die Schrift aus deinem Buch auslöschen kann, als göttliche Liebe.“ Und nun wandte sich die Jungfrau an den Richter und sagte: „Mein Sohn, soll der Teufel sein Buch öffnen, es lesen und sehen, wie weit das alles voll geschrieben oder vielleicht etwas ausgelöscht ist.“

Da sagte der Richter zum Teufel: „Wo ist dein Buch?“ Der Teufel erwiderte: „In meinem Bauch.“ Der Richter fragte ihn: „Was ist dein Bauch?“ Der Teufel antwortete: „Mein Gedächtnis. Denn wie alle Unreinheit und aller Gestank im Bauche ist, so ist auch alle Bosheit und Ungerechtigkeit in meinem Gedächtnis enthalten, und es stinkt wie der scheußlichste Geruch für dich. Denn als ich in meinem Übermut von dir und deinem Licht abfiel, da kam alle Bosheit auf mein Los, und mein Gedächtnis wurde für Gottes gute Dinge verdunkelt. Aber in diesem meinem Gedächtnis ist alle Bosheit der Sünder aufgeschrieben.“

Da sagte der Richter zum Teufel: „Ich befehle dir, Teufel, dass du in deinem Buch genau nachsiehst und untersuchst, was da geschrieben ist und was von den Sünden dieser Seele ausgelöscht ist, und das öffentlich sagst.“ Der Teufel antwortete: „Ich sehe in meinem Buche nach, aber ich sehe da andere Dinge geschrieben, als ich dachte. Ich sehe nämlich, dass die sieben ausgelöscht sind, und nichts steht mehr davon in meinem Buch; es ist nur noch zu sehen, dass da einmal etwas geschrieben stand.“

Nun sagte der Richter zu dem guten Engel, der dabei war: „Wo sind die guten Werke dieser Seele?“ Der Engel antwortete: „Herr, du weißt alles im voraus, das, was ist, das, was vergangen ist, und das, was kommt. Wir wissen und sehen alles in dir, und du in uns. Wir brauchen nicht mit dir zu sprechen, denn du weißt ja alles. Aber da du deine Liebe zeigen willst, gibst zu deinen Willen denen zu erkennen, denen du willst. Von der ersten Stunde an, da diese Seele mit dem Körper vereint war, war ich immer mit ihr zusammen. Ich habe ebenso ein Buch über ihre guten Werke geschrieben. Es steht in deiner Macht, ob du dieses Buch hören willst.“ Der Richter erwiderte: „Ich kann nicht urteilen, ehe ich nicht seine guten und seine bösen Taten gehört habe, und nachdem diese richtig gegeneinander abgewogen sind, wie die Gerechtigkeit es erfordert, wird geurteilt, ob er sterben oder leben soll.“

Der Engel gab zur Antwort: „Mein Buch ist sein Gehorsam, mit dem er dir gehorchte, und es gibt sieben Spalten darin. Die erste ist seine Taufe. Die zweite ist seine Enthaltsamkeit im Fasten und von ungehörigen Taten und Sünden, und auch von der Lust und Versuchung seines Fleisches. Die dritte Spalte war sein Gebet und sein auf dich gerichteter guter Vorsatz.

Die vierte Spalte waren seine guten Werke im Geben von Almosen und anderen Werken der Barmherzigkeit. Die fünfte Spalte war seine Hoffnung auf dich. Die sechste war sein Glaube, den er als Christ festhielt. Die siebente war seine göttliche Liebe. Da sagte der Richter zu dem guten Engel: „Wo ist dein Buch?“ Der Engel erwiderte: „In deinem Schauen und in der Liebe zu dir, Herr.“
Da sagte Maria höhnisch zum Teufel: „Wie hast du denn dein Buch verwahrt, und wie kam es, dass das, was darin geschrieben war, ausgelöscht ist?“ Der Teufel rief: „Weh, weh – du hast mich betrogen!“

Da sagte der Richter zu seiner huldreichen Mutter: „Du hast in dieser Sache auf vernünftige Weise einen Gerichtsbeschluss erhalten, und du hast diese Seele mit Recht gewonnen.“ Der Teufel schrie: „Ich habe verloren, ich bin überwunden! Aber sage mir, o Richter, wie lange soll ich diese Seele noch behalten, um die Sünden auszutilgen?“ Der Richter sagte: „Ich will dir das mitteilen, denn die Bücher sind aufgeschlagen und gelesen. Aber sag mir nun, Teufel, obwohl ich alles weiß: Soll diese Seele mit Recht in den Himmel kommen oder nicht?

Ich lasse dich die wahre Gerechtigkeit nun sehen und sie kennen.“ Der Teufel gab zur Antwort: „Die Gerechtigkeit findet sich bei dir, dass – wenn jemand ohne eine Todsünde aus der Welt scheidet, so soll er den Plagen der Hölle nicht anheim fallen, und dass ein jeder, der göttliche Liebe hat, mit Recht in den Himmel kommen soll. Da nun diese Seele die Welt nicht im Stand der Todsünde verlassen hat, sondern göttliche Liebe besaß, ist sie es doch wert, dass sie nach der Reinigung im Fegefeuer ins Himmelreich eintritt.“

Der Richter gab zur Antwort: „Weil ich deinen Verstand geöffnet habe und dich das Licht der Wahrheit und Gerechtigkeit sehen ließ, sollst du im Beisein derer, denen ich dies bekannt geben möchte, sagen, welche Gerechtigkeit dieser Seele widerfahren soll.“
Der Teufel antwortete: „Dass sie so gereinigt wird, dass es bei ihr keinen einzigen Fleck mehr gibt, denn obwohl sie dir von Rechts wegen zugesprochen ist, ist sie doch noch unrein und kann nicht zu dir kommen, ehe sie nicht gereinigt ist. Und da du, Richter, mich gefragt hast, frage ich jetzt dich, in welcher Weise sie gereinigt werden soll, und wie lange sie in meinen Händen bleiben soll.“

Der Richter erwiderte: „Es ist dir verboten, Teufel, in sie einzugehen oder sie zu verschlingen, aber du sollst sie reinigen, bis sie rein und unbefleckt geworden ist, denn sie leidet die Strafe in Übereinstimmung mit ihrer Sünde. Sie hat in dreifacher Weise mit den Augen, dreifach mit den Ohren, dreifach mit dem Gefühl gesündigt. Deshalb soll sie dreifach an den Augen bestraft werden. Erstens soll sie selbst ihre abscheulichen Sünden sehen. Zweitens soll sie dich in deiner Bosheit und deiner schrecklichen Missgestalt sehen. Drittens soll sie die Unseligkeit anderer Seelen und ihre schrecklichen Strafen sehen.

Ebenso soll sie dreifach im Gehör bestraft werden. Erstens soll sie ein schreckliches „Wehe!“ hören, denn sie wollte nur ihr eigenes Lob und die Lust der Welt vernehmen. Zweitens soll sie die schrecklichen Rufe und Lästerungen der Teufel hören. Drittens soll sie Schmähungen und unerträgliches Elend hören, denn sie hörte lieber und mit größerem Vergnügen die Liebe und die Gunst der Welt, als die von Gott, und hat der Welt eifriger als ihrem Gott gedient. Sie soll auch dreifach in ihrem Gefühlsleben geplagt werden. Erstens soll sie innerlich und äußerlich in dem verzehrendsten Feuer brennen, so dass es nicht mehr den kleinsten Fleck an ihr gibt, der nicht im Feuer gereinigt ist. Zweitens soll sie die schlimmste Kälte ertragen, denn sie brannte von ihrer eigenen Lust, aber war kalt in der Liebe zu mir. Drittens soll sie in Händen der Teufel sein, so dass es auch nicht den kleinsten Gedanken oder das kleinste Wort gibt, das nicht gereinigt wird, bis dass sie wie das Gold wird, das nach dem Willen des Besitzers im Schmelztiegel gereinigt wird.“

Da sagte der Teufel von neuem: „Wie lange soll diese Seele diese Strafen erleiden?“ Der Richter antwortete: „So lange, wie sie auf Erden leben wollte. Und weil sie so war, dass sie gern in ihrem Körper bis ans Ende der Welt leben wollte, deshalb soll diese Strafe bis zum Ende der Welt dauern. Denn es ist meine Gerechtigkeit, dass ein jeder, der göttliche Liebe zu mir hat und mich mit seinem ganzen Herzen ersehnt und bei mir sein und von der Welt geschieden sein will, der soll das Himmelreich ohne Strafe erhalten, denn die Prüfung des gegenwärtigen Lebens ist seine Reinigung.

Wer den Tod wegen dem bitteren Todesschmerz und wegen der kommenden Strafe fürchtet und länger leben möchte, um Gelegenheit zu haben, sich zu bessern, der soll eine leichte Strafe im Fegefeuer erhalten. Wer aber bis zum Tage des Gerichtes leben will, der soll – auch wenn er keine Todsünde begangen hat – trotzdem für diesen Willen, ewig zu leben, bis zum Tage des Gerichts gestraft werden.“

Da antwortete die huldreiche Mutter und sagte: „Gesegnet seist du, mein Sohn, für deine Gerechtigkeit, die alle Barmherzigkeit in sich schließt. Obwohl wir alles in dir sehen und kennen, sollst du dennoch zur Belehrung anderer sagen, welches Heilmittel angewendet werden soll, dass eine so lange Zeit der Pein verkürzt werden soll, und ein so schreckliches Feuer ausgelöscht wird, und wie diese Seele aus den Händen der Teufel erlöst werden kann.“

Der Sohn erwiderte: „Dir kann ich nichts abschlagen, denn du bist die Mutter der Barmherzigkeit, und du gewährst Barmherzigkeit und Trost für alle. Es gibt drei Dinge, die eine so lange Zeit der Plage verkürzen können, das Feuer löschen und die Seele aus den Händen der Teufel befreien können. Das erste ist, dass einer das zurückgibt, was er anderen unrechtmäßig genommen hat, denn es ist gerecht, dass die Seele davon gereinigt wird, bis dass, was er anderen zu Unrecht geraubt hat, bis zum letzten Pfennig ersetzt wird – sei es, dass dies durch Gebete der Heiligen geschieht, durch Spenden und gute Werke von Freunden, oder durch eine gehörige Reinigung.

Das zweite sind reichliche Almosen. Dadurch wird das Feuer gelöscht. Das dritte ist, dass mein Leib auf dem Altar für sie geopfert wird, und dass meine Freunde für sie beten. Diese drei Dinge können die Seele von den drei Strafen erlösen.“
Die Mutter der Barmherzigkeit fragte von neuem: „Was nützen ihm nun die guten Werke, die er für dich getan hat?“ Der Sohn antwortete: „Du fragst nicht deshalb, weil du es nicht weißt, denn du weißt und siehst alles in mir, sondern deshalb, weil du anderen meine Liebe offenbaren willst. Sicher soll nicht das kleinste Wort oder der kleinste Gedanke, den er mir zu Ehren dachte, ohne Belohnung sein. All das, was er um meinetwillen getan hat, ist jetzt vor ihm, und in seiner Pein gereicht ihm das zur Linderung und zum Trost, und das bewirkt, dass er weniger Hitze spürt, als wie er es sonst getan hätte.“

Danach sprach die Mutter zu ihrem Sohn und sagte: „Wie kommt es, dass diese Seele so unbeweglich steht, wie der, der weder Hände noch Füße gegen seine Feinde hat, und dennoch lebt?“ Der Richter sagte: „Der Prophet hat über mich geschrieben, dass ich wie ein Lamm war, das stumm vor denen ist, die es scheren. Wahrhaftig, ich schwieg vor meinen Feinden, und daher ist es auch gerecht, dass diese Seele, weil sie nicht auf meinen Tod achtete und ihn für etwas Geringes hielt, jetzt in den Händen der Totschläger ist – wie ein Kind, das nicht schreien und sich wehren kann.“
Die Mutter entgegnete: „Gesegnet seist du, mein liebster Sohn! Du tust nichts ohne Gerechtigkeit. Du hast vorhin gesagt, mein Sohn, dass deine Freunde dieser Seele helfen könnten, und du weißt sehr wohl, dass mir diese Seele in dreifacher Weise gedient hat. Erstens durch Enthaltsamkeit, indem sie an den Nachtwachen zu meinen Feiertagen fastete und da in meinem Namen Enthaltsamkeit übte.

Zweitens damit, dass sie mein Stundengebet las. Drittens damit, dass sie mit ihrem eigenen Mund zu meiner Ehre gesungen hat. Nachdem du also, mein Sohn, deine Freunde hörst, die auf Erden zu dir rufen, so bitte ich dich, dass du auch mich hörst.“ Der Sohn erwiderte: „Der, der von unserem Herrn am meisten geliebt wird, der wird am schnellsten erhört. Und weil du mir lieber bist als alles andere, so begehre, was du willst, und es soll dir gegeben werden.“

Die Mutter gab zur Antwort: „Diese Seele leidet drei Strafen im Augenlicht, drei im Gehör und außerdem drei im Gefühl. Daher bitte ich dich, liebster Sohn, dass du ihr eine der Strafen im Auge erlässt, so dass er die schrecklichen Teufel nicht sieht, sondern nur noch die beiden anderen Strafen aussteht, denn das erfordert deine Gerechtigkeit, der ich mich ja nicht widersetzen kann – Ja, so fordert es die Gerechtigkeit deiner Barmherzigkeit.
Zweitens bitte ich darum, dass du ihr eine Strafe im Gehör erlässt, so dass er seine Scham und Schande nicht mehr hört. Drittens bitte ich, dass du ihr auch eine Strafe im Gefühl erlässt, so dass sie nicht die schlimmste Kälte spürt, die sie doch verdient hat, nachdem sie kalt in der Liebe zu dir war.“

Der Sohn antwortete: Gesegnet seist du, liebste Mutter! Dir kann man nichts abschlagen. Dein Wille geschehe! Soll das geschehen, was du begehrst?“ Die Mutter entgegnete: „Gesegnet seist du, mein liebster Sohn, für all deine Liebe und Barmherzigkeit!“
Im selben Augenblick zeigte sich ein Engel mit einer großen Heerschar und sagte: „Lob sein dir, Herr Gott, Schöpfer und Richter aller Dinge! Diese Seele hat mir fromm in ihrem Erdenleben gedient, denn sie fastete mir zu Ehren und hat mich und deine umstehenden Freunde mit aller Ehrenbezeichnung gepriesen. Daher bitte ich dich in ihrem und in meinem Namen: Erbarme dich über diese Seele und schenke ihr um unserer Gebete willen Ruhe und Milderung in einer Strafe, so dass die Teufel keine Macht mehr haben, ihr Bewusstsein zu trüben.

Denn in Ihrer Bosheit verdunkeln sie ihr Bewusstsein so, dass sie niemals hoffen kann, das Ende ihres Elends zu erleben oder die Herrlichkeit zu erlangen, wenn es dir gefällt, in deiner Gnade besonders auf sie zu achten – und das ist eine schlimmere Strafe für sie, als alles andere. Schenk ihr deshalb, milder Herr, um unserer Gebete willen, dass sie – in welcher Pein sie auch landet – dessen gewiss sein kann, dass sie ein Ende nehmen wird, und sie die ewige Herrlichkeit erlangt.“

Der Richter antwortete: „Dies ist wahre Gerechtigkeit, denn diese Seele lenkte oft ihren Sinn von geistlichen Gedanken und Betrachtungen zu körperlichen Dingen hin, sie wollte ihr Gewissen verdunkeln und hatte keine Angst, gegen mich zu handeln. Daher ist es auch gerecht, dass die Teufel nun ihr Bewusstsein verdunkeln. Aber weil ihr, meine liebsten Freunde, meine Worte gehört und sie in die Tat umgesetzt habt, ist es auch nicht richtig, euch etwas abzuschlagen. Deshalb werde ich tun, was ihr wollt.“ Da antworteten alle Heiligen: „Gesegnet seist du, Gott, in all deiner Gerechtigkeit, denn du urteilst gerecht und lässt nichts ungestraft.“

Dann sagte der gute Engel, der der Seele beigegeben war, um sie zu beschützen, zum Richter: „Ich war bei dieser Seele von der ersten Stunde an, seitdem sie mit dem Körper vereint war, und ich folgte ihr nach Anordnung deiner Liebe. Manchmal hat sie meinen Willen getan. Deshalb bitte ich dich, Herr, erbarme dich über sie!“ Da antwortete der Herr: „Wir wollen das überlegen.“ Und damit endete diese Vision.

Erklärung
Dies war ein mild gesinnter Ritter, gut gegen arme Menschen. Seine Frau gab die großzügigsten Almosen für seine Seele. Er starb in Rom, wie es ihm in Gottes Geist vorausgesagt wurde. Vg. Buch III, Kap. 12.