45. Kapitel

Maria spricht: „Gesegnet seist du, mein Sohn, mein Gott und mein Herr! Obwohl ich nicht in der Lage bin, Trauer zu empfinden, habe ich mit dem Menschen aus drei Gründen Mitleid. Erstens, weil der Mensch Augen hat und doch blind ist, denn er sieht seine Gefangenschaft, aber flieht sie nicht, er verhöhnt deine Gerechtigkeit und klebt an seiner eigenen Lust, er verfällt in einem Augenblick der ewigen Pein und verliert so die ewige, glückselige Herrlichkeit.

Zweitens habe ich mit dem Menschen Mitleid, weil er die Welt begehrt und mit Freude betrachtet, aber nicht auf deine Barmherzigkeit achtet, weil er das sucht, was gering ist, aber das verwirft, was am größten ist. Drittens habe ich mit ihm Mitleid, weil deine Ehre – obwohl du der Gott von allen ist – von den Menschen vergessen ist, und deine Werke für sie tot sind. O mein gesegneter Sohn, erbarme dich deshalb über sie!“

Der Sohn erwiderte: „Alle die, die auf der Welt sind und ein Gewissen haben, sehen, dass es auf Erden eine Gerechtigkeit gibt, womit die Sünder gestraft werden. Wenn also körperliche Vergehen von irdischen Menschen um der Gerechtigkeit willen bestraft werden, ist es da nicht umso gerechter, dass unsterbliche Seelen von dem unsterblichen Gott bestraft werden? Das sollte der Mensch sehen und verstehen können, wenn er wollte. Aber er beugt seine Augen vor der Welt und vor seiner Begierde zu seinem Vergnügen – ja, wie die Eule der Nacht folgt, so folgt der Mensch dem flüchtigen Guten und hasst das Gute, was Bestand hat.

Zweitens könnte der Mensch, wenn er wollte, sehen und bedenken, dass, wenn die Sterne, die Bäume und die Kräuter schön sind, wenn all dies Weltliche begehrenswert ist, wie viel schöner und begehrenswerter muss da nicht der Herr und Schöpfer aller dieser Dinge sein? Und wenn diese zeitliche, vergängliche Ehre so begehrt und so heiß geliebt wird – wie viel mehr soll man da nicht die ewige Ehre begehren?

Dies sollteder Mensch sehen können, wenn er wollte, denn er hat ja den Verstand, um einzusehen, dass das, was größer und edler ist, mehr geliebt werden müsste, als das, was geringer und schlechter ist. Aber weil der Mensch, der doch die Fähigkeit erhalten hat, aufwärts zu blicken, wie das Tier immer zum Niedrigen gezogen wird – so webt er sozusagen ein Spinnennetz: Er verlässt die Schönheit der Engel und eifert dem Vergänglichen nach, und daher grünt er eine kurze Zeit wie das Gras und verwelkt so schnell wie dieses.

Drittens können die, die es wollen, in ihrem Gewissen verstehen und aus diesen geschaffenen Dingen schließen, dass nur einer der Gott und Schöpfer aller ist. Denn wenn es keinen Schöpfer geben würde, würde alles in ungeordneten Bahnen verlaufen, aber jetzt ist in der Tat nichts ungeordnet außer dem, was der Mensch schlecht ordnet, obwohl es für die Menschen so zu sehen ist, denen der Lauf der Planeten und der Zeiten unbekannt ist, und denen Gottes Gerichte auf Grund der begangenen Sünden verborgen sind.

Wenn also einer Gott ist und er der Allerbeste ist (von ihm geht ja alles Gute aus) – warum ehrt ihn da der Mensch nicht über alle Dinge? Der Verstand der Menschen sagt ihnen ja, dass er, von dem alles stammt, auch über alles geehrt werden muss. Aber der Mensch hat, wie ich sagte, Augen, und sieht doch nicht, ja er schließt seine Augen selbst, indem er lasterhaft behauptet, es läge an den Sternen, dass die Menschen gut oder schlecht sind.

Das Unglück, das ihn trifft, schreibt man dem Schicksal oder dem Zufall zu, als ob etwas Göttliches darin liegen würde, das etwas hervorbringen könnte. In Wirklichkeit ist ja das Schicksal oder der Zufall gar nichts, sondern was mit dem Menschen geschieht, ja mit allen Dingen geschieht, das ist von Gottes unabänderlicher Anordnung vorhergesehen und klug nach den Erfordernissen jeder Sache eingerichtet. Es liegt auch nicht an den Sternen, ob der Mensch gut ist oder schlecht, obwohl viel Vernünftiges in ihnen zu sehen ist, d.h. was nach der Natur und der Beschaffenheit der Zeiten eingerichtet ist. All dies könnten die Menschen einsehen, wenn sie wollten.“

Die Mutter erwiderte: „Jeder Mensch, dessen Gewissen richtig Zeugnis ablegt, versteht sehr wohl, dass man Gott mehr als alles andere lieben soll, und er führt das ja auch in der Tat aus. Aber weil über die Augen vieler ein Schleier gezogen ist, können sie nicht alle sehen, auch wenn der Augapfel ganz gesund ist. Was bedeutet dieser Schleier, der über dem Verstand von vielen liegt, wenn nicht das Unvermögen, das Zukünftige zu sehen?

Daher bitte ich, liebster Sohn, dass du zu offenbaren geruhst, wie deine Gerechtigkeit jemanden betrifft – nicht damit seine Schande und sein Unglück größer wird, sondern damit die Strafe, die er verdient hat, milder ausfällt, und dass deine Gerechtigkeit bekannt und gefürchtet wird. Wenn ein Sack mit etwas gefüllt ist, oder ein Krug voll Milch ist, wie soll der Mensch dann wissen, was er enthält, wenn er nicht ausgeschüttet und gezeigt wird?
So ist es auch mit deiner Barmherzigkeit: Obwohl sie groß ist, wird sie nur von ganz wenigen gefürchtet, wenn du sie nicht durch ein offenkundiges Gericht zeigst, denn deine Werke werden wegen der langen Zeit und der großen Zahl von Sünden wenig beachtet.

Zweitens bitte ich, dass du geruhst, deine Barmherzigkeit für jemanden zu zeigen, der dir lieb ist, so dass die Frömmigkeit anderer dadurch anwächst und die Elenden getröstet werden. Drittens bitte ich, dass dein Name zu Ehren kommen möge, so dass die, die ihn lieben, bekannt werden, und die Lauen angefeuert werden.“

Der Sohn erwiderte: „Wenn viele Freunde kommen und bitten, so geschieht es mit Recht, dass sie erhört werden, und wie viel mehr, wenn eine Frau, die dem Herrn sehr lieb ist, Hereintritt und bittet! Es geschehe also, wie du willst! Meine Gerechtigkeit soll sichtbar offenbart werden, so dass der, der sie erfahren will, sie spürbar vernimmt, dass seine Werke zu Tage kommen und seine Glieder zittern. Zweitens will ich einem Menschen so viel Barmherzigkeit schenken, wie er empfangen kann und sie braucht. Sein Leib soll erhöht und seine Seele soll verherrlicht werden, damit mein Erbarmen offenbar wird.“

Danach sagte die Mutter: „Dieser Platz der Mönche ist vom Guten abgewandt und auf Eis gegründet, und doch war sein Fundament von Anfang an das reinste Gold. Unter ihm ist die größte Tiefe. Und wenn die Sonne wärmt, schmilzt das Eis, und das, was gebaut ist, stürzt in den Abgrund. Erbarme dich also über sie, mein gesegneter Sohn! Der Sturz, der bevorsteht, ist ja schrecklich, die Tiefe ist unerträglich, das Dunkel ewig, und die Pein lang.