54. Kapitel

Maria sprach zum Sohn: „Gesegnet seist du, mein Sohn! Du bist der Anfang ohne den Beginn der Zeit, und die Macht, ohne die niemand mächtig ist. Ich bitte dich, mein Sohn, vollende machtvoll, was du weise begonnen hast.“ Der Sohn erwiderte: „Du bist wie ein Trank, lieblich für den Durstigen, und wie eine Quelle, die das Dürre bewässert, denn durch dich fließt Gnade zu allen. Deshalb will ich tun, worum du bittest.“

Weiter sagte der Sohn: „Diese Welt war, bevor ich Menschengestalt annahm, wie eine Wüste, in der sich ein trüber und unreiner Brunnen befand. Alle, die daraus tranken, bekamen noch mehr Durst, und entzündete Augen wurden davon noch kränker. An diesem Brunnen standen zwei Männer, von denen der eine rief und sagte: „Trinkt in Ruhe, denn es kommt ein Arzt, der alle Krankheit fortnimmt.“ Der andere sagte dagegen: „Trinkt nur fröhlich; es ist vergeblich, etwas Unsicheres haben zu wollen.“

Zu diesem Brunnen führten sieben Wege, und deshalb sehnten sich alle nach dem Brunnen. Diese Welt ist zu Recht mit einer Wüste zu vergleichen, wo es unfruchtbare Bäume und unreines Wasser gibt, denn der Mensch dürstet wie ein wildes Tier danach, das Blut seines Nächsten zu vergießen; er war unfruchtbar an Taten der Gerechtigkeit und war unrein durch seine Zügellosigkeit und Lüsternheit. In dieser Wüste trachteten die Menschen nach einem trüben Brunnen, nämlich nach der Liebe der Welt und ihrer Ehre, einem Brunnen, der tief durch Hoffart und trübe durch Kummer und Sorge des Fleisches ist.

Man ist dorthin durch die sieben Todsünden wie auf sieben Wegen gekommen. Die beiden Männer, die am Brunnen standen, bezeichnen die Lehrer der Heiden und der Juden. Die Lehrer der Juden waren hochmütig auf das Gesetz, das sie hatten, aber nicht befolgten. Und weil sie höchst gierig waren, verleiteten sie mit Wort und Beispiel das Volk dazu, das Zeitliche zu suchen, indem sie sagten: „Lebt in Sicherheit, denn der Messias wird kommen und alles wieder herstellen.“

Die Lehrer der Heiden sagten dagegen: „Nützt das Geschaffene, was ihr seht, denn die Welt ist geschaffen, damit wir uns freuen sollen.“ Als der Mensch es nun so schlecht anstellte, dass er sich weder um Gott kümmerte noch an die Zukunft dachte, da kam ich in die Welt, ein Gott mit dem Vater und dem Heiligen Geist, nahm Menschengestalt an, predigte offen und sagte: „Was Gott versprochen und Mose geschrieben hat, das ist erfüllt. Liebt daher das Himmlische, denn das Irdische vergeht, und ich werde euch das Ewige schenken.

Ich zeigte auch den siebenfachen Weg, auf dem der Mensch sich von seinen eitlen Dingen abkehren sollte, denn ich zeigte ihm die Armut und den Gehorsam, ich lehrte Fasten und Gebete, und floh manchmal die Menschen und stand einsam im Gebet. Ich war geduldig gegenüber Schmähungen, ich wählte Mühen und Plagen, ich ertrug die Strafe und einen schimpflichen Tod. Diese Wege zeigte ich durch mein eigenes Vorbild, und meine Freunde gingen lange Zeit auf diesem Weg.

Aber nun ist der Weg zerstört, die Wächter schlafen, und die Reisenden haben ihr Vergnügen an eitlen und neuen Dingen. Daher werde ich aufstehen und nicht schweigen. Ich werde die Stimmen der Freude verjagen und meinen Weinberg anderen geben, die mir zu ihrer Zeit Frucht bringen. Aber weil, wie ein gängiges Sprichtwort sagt, Freunde unter Feinden anzutreffen sind, so will ich meinen Freunden Worte senden, die lieblicher sind als Datteln, süßer als Honig und kostbarer als Gold. Die, die diese Worte annehmen und sich daran halten, werden den Schatz bekommen, der glücklich in Ewigkeit bleibt und nicht vergeht, sondern im ewigen Leben vermehrt wird.“