59. Kapitel

Gottes Mutter spricht: „Sobald der Engel mir verkündete, dass Gottes Sohn von mir geboren werden sollte, und ich meine Zustimmung gab, fühlte ich etwas Ungewöhnliches und Wunderbares in mir. Deshalb begab ich mich gleich höchst verwundert zu meiner Verwandten Elisabeth, die schwanger war, um sie zu trösten, und sprach mit ihr darüber, was der Engel mir verkündet hatte.

Und als sie mir an der Quelle entgegenkam und wir uns mit Umarmungen und Küssen begrüßten, freute sich das Kind in meinem Schoß, indem es in einer seltsamen und sichtbaren Zuckung jubelte. Da wurde auch ich in meinem Herzen von einer ungeahnten Jubelfreude ergriffen, so dass meine Zunge bis dahin ungeahnte Worte über Gott sprach, und meine Seele konnte sich kaum vor Freude fassen.

Elisabeth wunderte sich über die Glut des Geistes, die in mir redete, und ich wunderte mich ebenso über Gottes Gnade in ihr; wir priesen beide Gott und waren ein paar Tage zusammen. Dann begann der Gedanke meine Seele zu beschäftigen, wie fromm ich mich verhalten müsste, nachdem mir eine solche Gnade widerfahren war, was ich antworten sollte, wenn man mich fragte, wie ich das Kind empfangen hätte, und wer der Vater des Kindes sei, das da geboren werden sollte. Und ich fürchtete auch, dass Joseph auf die Rede irgendeines Feindes hin mich wegen etwas Unrechtem im Verdacht haben könnte.

Und sieh, als ich dies dachte, zeigte sich mir ein Engel, ähnlich wie der, den ich das erste Mal gesehen hatte, und er sagte: „Unser Gott, der ewig ist, ist mir dir und in dir. Fürchte dich daher nicht, denn er wird dir eingeben, was du reden sollst, und wird deine Schritte lenken und deine Plätze bestimmen. Er wird sein Werk mit dir in mächtiger und weiser Art vollenden.“

Als Joseph, mit dem ich verlobt war, verstand, dass ich schwanger war, wurde er bestürzt und hielt sich für unwürdig, noch mit mir zusammen zu sein; er ängstigte sich und wusste nicht, was er tun sollte. Aber ein Engel sagte im Traum zu ihm: „Du sollst dich nicht von der Jungfrau trennen, die dir anvertraut ist, denn was du von ihr gehört hast, ist völlig wahr. Sie ist nämlich von Gottes Geist schwanger geworden und wird einen Sohn gebären, den Erlöser der Welt. Diene ihr daher treulich, und sei der Wächter und Zeuge ihrer Keuschheit.

Von dem Tage an diente Joseph mir wie seiner Herrscherin, und auch ich demütigte mich zu seinen geringsten Dingen. Ich war dann unermüdlich im Gebet, wollte selten gesehen werden und ging sehr selten aus zu irgendwelchen großen Festen, aber achtete genau auf die Gebete und Lesungen, die von unseren Priestern gelesen wurden. Ich widmete mich eine gewisse Zeit der Arbeit und meinen Händen, und ich fastete behutsam, so wie es meine Natur im Dienste Gottes ertragen konnte.

Was von unserer Kost übrig blieb, gaben wir den Armen und ließen uns genügen mit dem, was wir hatten. Joseph diente mir so zärtlich, dass nie ein leichtfertiges, murrendes oder erzürntes Wort in seinem Mund zu hören war, denn er war selbst sehr geduldig in der Armut, fleißig bei der Arbeit, wenn es nötig war, mild und sanftmütig gegenüber denen, die lästerten, überaus gehorsam in meinem Dienst, der bereitwilligste Verteidiger meiner Jungfräulichkeit gegenüber denen, die sie verneinten, und der treueste Zeuge von Gottes Wundertaten.

Ja, er war so tot für die Welt und für das Fleisch, dass er nichts anderes mehr begehrte, als das Himmlische. Er glaubte so fest an Gottes Versprechen, dass er ständig sagte: „O dass ich leben und sehen könnte, wie Gottes Wille vollendet wird!“ Er kam auch höchst selten zu Zusammenkünften von Männern und deren Ratschlägen, denn sein ganzes Begehren war, Gottes Willen zu gehorchen. Deshalb ist nun seine Ehre groß.“