95. Kapitel

Ein vornehmer, großer Mann in Schweden, der Herr Israel hieß, wurde oft vom König mit vielen Bitten zu einer höheren Würdenstellung in der Lenkung des Reiches gerufen. Sein Begehren war jedoch, gegen die Heiden auszuziehen und dort im Dienste Gottes für den heiligen Glauben zu sterben, und er war deshalb durchaus nicht geneigt, die angebotene Ehrenstellung anzunehmen.

Da sprach Gottes Mutter zur Braut, während diese betete, und sagte: „Wenn die, die die Gerechtigkeit kennen, sich nach ihr sehnen und in der Lage sind, sie zu verwirklichen, sich weigern, um Gottes willen eine Last und Arbeit auf sich zu nehmen, wie soll das Reich dann stark und gesund bleiben? Weh dem! Es ist ja dann kein Reich, sondern eine Räuberhöhle und ein Platz für Tyrannen, wo die Ungerechten herrschen und die Gerechten unterdrückt werden.

Deshalb soll der Mann, der gut und gerecht ist, sich von der Liebe zu Gott und aus gutem Eifer, anbieten, an der Regierung zu beteiligen, damit er vielen anderen nützen kann. Aber die, die um weltlicher Ehre willen nach Würden und Regierungsaufträgen trachten, die sind nicht wahre Fürsten, sondern sind Tyrannen.

Also soll dieser mein Freund Israel um Gottes Ehre willen die Regierungsstelle annehmen und Worte der Wahrheit im Mund und das Schwert der Gerechtigkeit in der Hand haben, und er soll nicht auf die Gunst von Menschen oder auf Freunde achten oder sich von so etwas beeinflussen lassen, oder auf die Person Rücksicht nehmen. Denn ich sage dir, dass einmal unter Menschen von ihm gesagt werden wird: „Er ist mannhaft aus seinem Vaterlande ausgezogen, hat Gottes Mutter aufrichtig verehrt und Gott treu gedient.“ Du sollst daher wissen, dass ich ihn auf einem anderen Weg in mein Reich führen werde, wie ich es mit den weisen Männern gemacht habe.“

All dies traf wirklich ein. Denn nach einigen Jahren zog dieser Herr gegen die Ungläubigen aus und kam in die Stadt Riga in Deutschland[1], wo er krank wurde. Als er den Tod nahen fühlte, begab er sich mit ein paar Anderen in die Domkirche, und dort setzte er auf das Bild ‚Unserer Frau’ einen kostbaren Ring, der dort in hoher Verehrung gehalten wird. Er ließ den Ring dort sitzen und sagte laut: „Du bist meine Herrscherin, und du warst immer so hold zu mir; dafür nehme ich dich zum Zeugen. Deshalb überlasse ich mich und meine Seele deiner Obhut und Barmherzigkeit.“ Dann nahm er das Sakrament und starb den frömmsten Tod.

Als die Braut dann für ihn betete, sprach Gottes Mutter über ihn und sagte: „Er hat mir den Ring seiner Liebe gegeben und wollte mich als Braut haben. Wisse in Wahrheit, Tochter, dass er, als er lebte, mich nicht mit halbem, sondern mit ganzem Herzen liebte. Und in allen seinen Taten und Urteilen fürchtete er meinen Sohn. Deshalb führte ich ihn mit Gottes, meines Sohnes Hilfe einen Weg, der notwendiger und nützlicher für ihn war, und ich stellte ihn der Schar der himmlischen Heerschar der Heiligen und der Engel vor, von denen er geliebt wurde. Wenn er unter Verwandten gestorben wäre, hätte zeitliche Freude ihn behindern können. Sein guter Wille gefiel Gott ebenso sehr, als wenn er im Heidenland und im Kampf gegen die Ungläubigen für den heiligen katholischen Glauben gestorben wäre.“

Erklärung
Dieser Herr war der Bruder der hl. Birgitta.

[1]. Lettland gehörte damals zum Deutschen Orden.