13. Kapitel

Die Jungfrau Maria spricht zur hl. Birgitta und sagt: „Ich will dir sagen, wie ich mit der Seele deines Sohnes Karl verfahren bin, als sie vom Körper getrennt wurde. Ich habe gehandelt wie eine Frau, die bei einer Gebärenden steht und dem Kinde hilft, dass es nicht in dem fließenden Blut ertrinkt oder in der engen Öffnung erstickt, durch die es austritt, und auch darauf achtet, dass die Feinde des Kindes, wenn sie im selben Hause sind, es umbringen können.

In dieser Weise habe ich gehandelt. Ich stand nämlich bei deinem Sohn Karl, kurz bevor er den Geist aufgab, damit er die fleischliche Liebe nicht so stark im Gedächtnis haben sollte, dass er deshalb etwas denken oder sagen würde, das Gott missfällt, oder etwas unterlassen würde, was Gott gefällt, oder zum Schaden seiner Seele etwas verwirklichen würde, was Gottes Willen widerspricht. Ich half ihm auch in der engen Öffnung, nämlich beim Ausgang seiner Seele aus dem Körper, so dass er keine so schwere Todesqual leiden sollte, dass er dadurch ungeduldig werden oder vielleicht verzweifelte und Gott in seiner Todesstunde vergessen würde.

Ich habe auch die Seele vor ihren Todfeinden, nämlich den Teufeln, geschützt, so dass keiner von ihnen sie berühren könnte. Sobald sie den Körper verließ, nahm ich sie in meine Obhut und Verteidigung, und da machte sich augenblicklich die ganze Teufelsschar davon, die sie in ihrer Bosheit verschlingen und ewig peinigen wollte. Aber wie nach Karls Tode über seine Seele Gericht gehalten wurde, das werde ich dir zeigen, wenn es mir gefällt.“

Die zweite Offenbarung über dasselbe Thema.
Nach einigen Tagen zeigt sich die Jungfrau Maria wieder Frau Birgitta, als sie im Gebet wachte. Da sagte sie: „Durch Gottes Güte ist es dir jetzt gestattet, zu sehen und zu hören, wie über die genannte Seele Gericht gehalten wurde, als sie den Körper verließ. Was da in einem Augenblick vor Gottes unfassbarer Majestät geschah, das wird dir in einem gewissen Zeitabstand und durch ein Gleichnis ausführlich gezeigt werden, so dass es dein Verstand fassen kann.“

In derselben Stunde sah Frau Birgitta sich in einen großen und schönen Palast versetzt, wo der Herr Jesus Christus Gericht hielt, gekrönt wie ein Kaiser und umgeben von einer unzähligen Schar dienender Engel und Heiliger. Bei ihm stand seine hochwürdige Mutter, die aufmerksam auf das Urteil hörte. Vor dem Richter sah man auch eine Seele stehen, sehr furchtsam und zitternd, nackt wie ein neugeborenes Kind und gleichsam völlig blind, so dass sie nichts sah, aber in ihrem Bewusstsein doch verstand, was im Palast gesprochen und getan wurde. Ein Engel stand rechts vom Richter neben der Seele, und ein Teufel auf der linken Seite, aber keiner kam an die Seele heran oder berührte sie.

Da rief der Teufel und sagte: „Höre, allmächtiger Richter! Ich klage vor dir über eine Frau, die meine Herrscherin und deine Mutter ist, und die du so liebst, dass du ihr die Macht über Himmel und Erde und über uns alle Geister des Abgrunds gegeben hast. Sie hat mir nämlich Unrecht in dem getan, was diese Seele betrifft, die hier steht. Von Rechtswegen hätte ich gleich, sobald diese Seele den Körper verließ, mit Beschlag belegen müssen und sie mit meiner Gesellschaft vor deinen Richterstuhl führen müssen. Aber sieh, du gerechter Richter – diese Frau, deine Mutter, nahm diese Seele mit in ihre Hände, kaum dass sie aus dem Mund des Mannes gekommen war, in ihre starke Verwahrung und führte sie zu deinem Richterstuhl!“

Die Jungfrau Maria antwortete: „Das tat ich um der brennenden Liebe willen, die er für mich hatte, und wegen der Freude, die er darüber empfand, dass ich Gottes Mutter bin. Daher erwirkte ich von meinem Sohn die Gnade, dass kein böser Geist ihm nahen durfte, wo er auch war, ja nicht einmal da, wo er jetzt ist.“

Danach sprach der Teufel zum Richter und sagte: „Ich weiß ja, dass du selber die Gerechtigkeit und Macht bist. Du urteilst über einen Teufel nicht ungerechter, als über einen Engel. Sprich mir also diese Seele zu! Mit der Kenntnis, die ich erhielt, als du mich geschaffen hast, habe ich alle ihre Sünden aufgeschrieben, und mit der Bosheit, die ich besaß, als ich vom Himmel fiel, habe ich sie aufbewahrt. Denn sobald diese Seele in das Alter kommt, wo sie Unterschiede machen kann, dass sie richtig versteht, dass es Sünde war, was sie getan hat, da zog sie der eigene Wille dazu, lieber in weltlicher Hoffahrt und irdischen Vergnügungen zu leben, als solchen Dingen zu widerstehen.“

Der Engel erwiderte: „Sobald seine Mutter merkte, dass sein Wille zur Sünde neigte, kam sie ihm mit Werken der Barmherzigkeit und täglichen Gebeten zu Hilfe, dass Gott seiner erbarme, und dass er sich nicht von Gott entfernen sollte, und wegen dieser Werke seiner Mutter erhielt er auch die Gottesfurcht, so dass er – sobald er in eine Sünde geriet, gleich eilen sollte, zu beichten.“

Der Teufel gab zur Antwort: „Mir steht es zu, seine Sünden zu erzählen.“ Und er wollte beginnen, aber im selben Augenblick fing er an, zu schreien und zu weinen, und bei sich selber genau nachzusuchen, sowohl im Kopf und in allen Gliedern, die er scheinbar hatte, und man sah ihn zittern, so groß er war, und in seiner großen Bestürzung rief er: „Weh mir Elendem! Nun ist meine lange Arbeit zu nichts nütze. Nicht nur der Text selbst ist jetzt vernichtet und vergessen, sondern auch das Material ist verbrannt, worauf alles geschrieben worden ist.

Das Material gibt die Fälle an, wo er gesündigt hat, und an die erinnere ich mich ebenso wenig wie an die Sünden, die darauf geschrieben waren.“
Der Engel antwortete: „Das haben die Tränen und die lange Arbeit seiner Mutter und ihre Gebete verursacht. Der mitleidige Gott hat ihre Klage gehört und hat ihrem Sohn diese Gnade geschenkt: Dass er für jede Sünde, die er begangen hat, Reue empfand, so dass er demütig aus Liebe zu Gott beichtete. Deshalb sind diese Sünden in deinem Gedächtnis vergessen.“

Der Teufel antwortete, dass er noch einen Sack voll Schriften hätte, d.h. die Bußübungen, die dieser Ritter für seine Sünden machen wollte, es aber doch versäumt hat. „Deshalb steht es mir zu“, sagte er, „ihn solange zu peinigen, bis für alle die Sünden Genugtuung geleistet ist, um die sich dieser Ritter nicht gekümmert hat, sie in seinem Leben zu bessern.“

Der Engel sagte: „Mach den Sack auf und fordere Gericht über die Sünden, für die es dir zusteht, die Seele zu peinigen!“
Da rief der Teufel wie ein Verrückter: „Ich bin in meiner Macht geplündert! Jetzt hat man mir nicht nur den Sack geraubt, sondern auch die Sünden, mit denen er gefüllt war. Der Sack, in den ich alle Ursachen gelegt hatte, für die ich ihn zu strafen hätte, war sein Leichtsinn, denn aus Leichtsinn unterließ er viele gute Dinge.“

Der Engel antwortete: „Die Tränen seiner Mutter haben dich beraubt, den Sack aufgerissen und die Schrift zerstört, denn so sehr haben ihre Tränen Gott gefallen.“
Der Teufel sagte: „Noch etwas habe ich hier vorzubringen, nämlich seine verzeihlichen Sünden.“

Der Engel erwiderte: „Er hatte den Willen, von seinem Vaterland eine Wallfahrt zu unternehmen, er verließ seine Güter und Freunde, besuchte unter vielfachen Mühen heilige Plätze und führte dies auch durch, und er bereitete sich auch so vor, dass er würdig war, den Ablaß der heiligen Kirche zu gewinnen. Dadurch, dass er seine Sünden besserte, wollte er auch Gott, seinen Schöpfer, gnädig Stimmen. Deshalb sind ihm auch all die Fälle vergeben, von denen du sagtest, sie seien als Sünden aufgeschrieben.“
Der Engel erwiderte: „Streck die Zunge aus und zeige die Schrift!“ Der Teufel jammerte laut und schrie wie ein Verrückter. Er sagte: „Weh mir, ich habe nicht ein einziges Wort zu sagen, denn meine Zunge ist mit der Wurzel abgeschnitten, und all ihre Kräfte sind dahin.“

Der Engel antwortete: „Das hat seine Mutter mit ihren unermüdlichen Gebeten und ihrer Mühe erreicht, denn sie liebte seine Seele von ganzem Herzen. Um ihrer Liebe willen hat es Gott gefallen, ihm all seine verzeihlichen Sünden zu verzeihen, die er von Jugend an bis zu seinem Tode begangen hat, und deshalb scheint deine Zunge ihre Kräfte verloren zu haben.“

Der Teufel entgegnete: „Ich habe noch eine Sache gut in meinem Herzen versteckt, und die kann niemand auslöschen. Das ist, dass er etwas zu Unrecht erworben hat und nicht daran dachte, es zurückzugeben.“
Der Engel sagte: „So etwas hat seine Mutter mit Almosen, Gebeten und Werken der Barmherzigkeit gutgemacht, so dass die Strenge der Gerechtigkeit in milde Barmherzigkeit umgewandelt wurde, und Gott gab ihm den festen Willen, seine Güter nicht zurückzuhalten, sondern – soweit ihm das nützlich war – es denen vollständig zurückzugeben, von denen er unrechtmäßig etwas genommen hatte. Diesen Willen nahm Gott als vollbrachte Tat, nachdem er nicht mehr länger leben konnte. Nun kommt es seinen Erben zu, für so etwas aufzukommen, so gut sie können.“

Der Teufel wandte ein: „Da ich also nicht die Macht habe, ihn für die Sünden zu strafen, muss ich ihn doch züchtigen dürfen, dass er keine guten Werke und Tugenden geübt hat, als er es noch konnte und gesund an Leib und Seele war. Tugenden und gute Werke sind nämlich die Schätze, die er in ein solches Reich mitbringen sollte, wie Gottes ehrenvolles Reich es ist. Erlaube mir also, das mit Plagen zu ersetzen, was ihm an guten Taten fehlte!“

Der Engel antwortete: „Es steht geschrieben, dass dem, der bittet, gegeben werden soll, und dass dem, der beharrlich anklopft, geöffnet wird. Höre also, du Teufel: Seine Mutter hat in mehr als dreißig Jahren mit liebevollen Gebeten und Werken der Frömmigkeit inständig für ihn an das Tor der Barmherzigkeit geklopft, und sie hat viele tausend Tränen vergossen, dass Gott seinen Heiligen Geist in sein Herz gießen möge, und es diesem ihrem Sohn eingeben möge, seine Güter, seinen Leib und seine Seele mit frohem Sinn in den Dienst Gottes zu stellen. Das hat Gott auch getan, denn dieser Ritter wurde im Geist so brennend, dass es ihm nicht mehr gefiel, für etwas anderes zu leben, als Gottes Willen zu befolgen.

Und sieh, als Gott so lange angerufen wurde, goss er seinen gesegneten Geist in sein Herz, und Gottes jungfräuliche Mutter gab ihm von ihrer Kraft, was ihm an geistlichen Waffen und Gewändern fehlte, und was den Rittern zusteht, die ins Himmelreich zum höchsten Herrscher kommen werden. Die Heiligen im Himmelreich, die dieser Ritter besonders liebte, als er lebte, brachten ihm mit ihren Verdiensten Trost.

Er sammelte selber einen Schatz, wie es die Pilger tun, die täglich ihre vergänglichen Besitztümer gegen ewige Reichtümer eintauschen, und weil er das tat, erhielt er ewige Freude und Ehre, und besonders für die brennende Sehnsucht, die er hatte, nach der heiligen Stadt Jerusalem zu wallfahrten, und weil er so eifrig begehrte, sein Leben im Krieg zu wagen (wenn er es nur gekannt hätte), dass das heilige Land wieder unter die Herrschaft der Christen kommen sollte, und das ehrenreiche Grab des Herrn in gebührender Verehrung gehalten werden sollte. Daher hast du, Teufel, kein Recht, das zu ersetzen, was er selbst hätte vollbringen können.“
Der Teufel antwortete: „Noch fehlt ihm die Krone. Gern würde ich es anstellen, dass sie unvollendet bliebe.“

Der Engel entgegnete: „Es ist gewiss und war, dass alle, die sich selbst vor der Hölle retten, indem sie aufrichtig ihre Sünden bereuen, ihren Willen in Übereinstimmung mit Gottes Willen bringen und von ganzem Herzen Gott lieben, Gottes Gnade gewinnen sollen.
Es gefällt Gott auch, ihnen die Siegeskrone seines gesegneten menschlichen Leibes zu geben, wenn sie nur nach den Erfordernissen der Gerechtigkeit gereinigt sind. Deshalb hast du, o Teufel, mit seiner Krone überhaupt nichts zu tun.“

Als der Teufel dies hörte, rief er laut, heulte in seiner Ungeduld und sagte: „Weh mir! Mein ganzes Gedächtnis ist mir weggenommen worden. Ich erinnere mich nicht mehr, worin dieser Ritter meinen Willen befolgte, und – das ist noch merkwürdiger – ich habe sogar vergessen, welchen Namen er auf Erden hatte!“

Der Engel antwortete: „Wisse, dass er jetzt im Himmel „Sohn der Tränen“ genannt wird.“
Der Teufel schrie laut und sagte: „O, welch verdammte Sau ist doch seine Mutter, die einen so weiten Bauch hatte, dass viel, viel Wasser darin Platz finden konnte, und alle Plätze darin mit Tränenwasser gefüllt waren! Sei sie von mir und meiner ganzen Gesellschaft verdammt!“
Der Engel erwiderte: „Deine Verdammung ist Gottes Ehre und ein Segen für alle seine Freunde.“

Da sprach Christus der Richter und sagte: „Geh weg, Teufel, du mein Feind!“ Dann sagte er zum Ritter: „Komm, du mein Erwählter!“ Und gleich ergriff der Teufel die Flucht.

Als die Braut (Birgitta) das sah, sagte sie: „O ewige und unermessliche Kraft, Jesus Christus, Gott und Herr, du bist es, der alle guten Gedanken, Gebete und Tränen in die Herzen gießt! Du verhüllst deine Gnadengaben und bescherst (den Menschen) ewige, ehrenvolle Belohnung! Dir sei Ehre und Dienst und Dank für alles, was du geschaffen hast! O mein liebster Gott, du bist mir am allerliebsten, mir lieber als Leib und Seele!“

Da sprach der Engel zu derselben Braut Christi und sagte: „Du sollst wissen, dass diese Vision dir nicht nur zu deinem eigenen Trost von Gott gezeigt wurde, sondern auch dafür, dass Gottes Freunde verstehen sollen, wie viel er durch die Gebete, Tränen und Arbeiten seiner Freunde tut, wenn sie liebevoll beten und inständig und mit gutem Willen für andere tätig sind. Wisse auch, dass dieser Ritter, dein Sohn, nicht solche Gnade erhalten hätte, wenn er nicht schon von Kindheit an den Willen gehabt hätte, Gott und seine Freunde zu lieben und sich nach allen Sündenfällen zu bessern.“