30. Kapitel

Ich sah ein großes Schloss, wie der klare Himmel. Da war eine himmlische Heerschar, unzählig wie die Sonnenkörner (? solgrand), und es strahlte wie die Strahlen der Sonne. In dem Schloss saß auf einem wunderbaren Thron eine männliche Person von unbegreiflicher Schönheit, ein unendlich mächtiger Herr, dessen Kleider seltsam und von unsagbarer Klarheit waren. Neben ihm, der auf dem Thron saß, stand eine Jungfrau, die klarer als die Sonne strahlte; die ganze himmlische Heerschar, die zugegen war, ehrte sie als die Königin des Himmels.

Und er, der auf dem Thron saß, tat seinen Mund auf und sagte: „Hört, ihr alle meine Feinde, die ihr auf Erden lebt – denn mit meinen Freunden, die meinen Willen befolgen, rede ich nicht. Hört, alle ihr Kleriker, Erzbischöfe, Bischöfe und alle niedrigeren Beamten der Kirche! Hört alle ihr Männer mit keuschem Lebenswandel, zu welchem Orden ihr auch gehören mögt!

Hört, ihr Könige, Fürsten und Richter auf Erden sowie ihr alle, die dient! Hört, ihr Frauen, Königinnen, Fürstinnen und alle Frauen und Dienerinnen, ja alle, welchem Stand und Lebensstellung ihr auch angehören mögt, Große und Kleine, die die Welt bewohnen, hört diese Worte, die ich, der euch geschaffen hat, nun zu euch sage! Ich klage darüber, dass ihr von mir abgewichen seid und euch meinem Feind, dem Teufel, anvertraut habt, dass ihr meine Gebote verraten, dem Willen des Teufels gefolgt seid und seinen Eingebungen gehorcht.

Ihr denkt nicht daran, dass ich, der unwandelbare und ewige Gott, euer Schöpfer, vom Himmel zu einer Jungfrau herabgestiegen bin und von ihr Menschengestalt angenommen habe und unter euch gewandert bin. Ich habe ja durch mein eigenes Beispiel den Weg für euch gebahnt und habe euch gezeigt, wie ihr zum Himmel gehen sollt. Ich wurde entkleidet, gegeißelt, mit Dornen gekrönt und so hart am Kreuze ausgestreckt, dass fast alle Sehnen und Gelenke im Körper brachen. Ich hörte alle Schmähungen und litt den verächtlichsten Tod und das bitterste Herzweh um eurer Erlösung willen.

Auf dies alles gebt ihr, meine Feinde, nicht Acht, denn ihr seid betrogen. Ihr tragt das Joch und die Bürde des Teufels mit all ihrer trügerischen Süße, aber ihr wisst es nicht und merkt es nicht, bis eine unendliche Trauer euch befällt, die von dieser grenzenlosen Bürde herrührt. Aber dies ist euch nicht genug, sondern euer Übermut ist so groß, dass ihr, wenn ihr höher steigen könntet als ich, das gern tun würdet. Und so groß ist eure fleischliche Lust, dass ihr lieber mich entbehren wollt, als euer unordentliches Begehren aufgeben wollt. Eure Habsucht ist unermesslich, wie ein Sack mit Löchern im Boden, denn es gibt nichts, was sie sättigen kann.

Deshalb schwöre ich bei meiner Gottheit, dass – wenn ihr in dem Zustand sterbt, in dem ihr jetzt seid, so werdet ihr nie mein Antlitz zu sehen bekommen, sondern werdet für euren Hochmut so tief in die Hölle versenkt, dass alle Teufel noch über euch sein und euch untröstlich peinigen werden; für eure Geilheit werdet ihr mit schrecklichem, teuflischem Gift erfüllt werden, und für eure Gewinnsucht werdet ihr mit Schmerz und Angst erfüllt und alles Böse zu spüren bekommen, was es in der Hölle gibt.

O meine Freunde, böse, undankbar und entartet wie ihr seid, ihr meint, ich sei wie ein toter Wurm im Winter, und deshalb tut ihr, was ihr wollt, und habt dabei Erfolg. Deshalb werde ich im Sommer aufstehen, und da werdet ihr verstummen und meiner Hand nicht entkommen. Doch habe ich euch, meine Feinde, mit meinem Blut erlöst, und ich begehre nichts anderes, als eure Seelen. Kehrt daher mit Demut zu mir zurück, so werde ich euch gnädig als Kinder annehmen. Werft das schwere Joch des Teufels von euch ab, erinnert euch an meine Liebe und schaut in eurem Gewissen, dass ich lieb und milde bin.“